Zwischen zwei Müttern

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Von der Tochter eines polnischen Rabbis im besetzten Paris, die mit der eigenen Kultur brach, um, von ihrer Wahlmutter angeleitet, ein Kind der französischen Republik zu werden.

"Muttertag: Ich nehme das Geld aus meiner Sparbüchse und gehe allein in die Rue Custine, um Geschenke für die beiden Frauen zu kaufen: ein, Haarnetz' und einen Kamm, glaube ich; außerdem kaufe ich zwei Postkarten. Auf der einen ist ein lachendes Frauengesicht, auf der anderen eine sitzende Frau mit einem stehenden kleinen Jungen. Ich zögere einen Moment und wähle für Mémé die erste, die schönere von beiden. Ich schäme mich und fühle, wie ich im Geschäft erröte. Meine Wahl ist tatsächlich getroffen, meine Vorliebe ist bekundet.

Wenige Jahre zuvor hatte Marschall Pétain in den Schulen einen Wettbewerb organisiert: es ging darum, wer den schönsten Brief zum Muttertag, dem gerade von ihm eingesetzten Feiertag, schrieb. Ich war eine der Gewinnerinnen und erhielt ein illustriertes Exemplar von, Die Grille und die Ameise'. Ich wurde in jede Klasse geschickt, um meinen Brief laut vorzulesen und den Preis zu zeigen, den ich von dem erhalten hatte, der Arbeit, Familie und Vaterland wieder zu Ehren kommen ließ."

Vater als spirituelles Oberhaupt

25. Mai 1941. Erstmals werden in Frankreich alle Mütter gefeiert, nicht nur jene mit kinderreichen Familien, wie das schon seit 1920 der Fall ist. Sarah Kofman ist sechs Jahre alt und schreibt in der Schule den preisgekrönten Brief an ihre Mutter. Der Vater ist Rabbiner in einer kleinen Synagoge im 18. Arrondissement von Paris. Sarah hat fünf Geschwister. Sie lebt im Rhythmus des jüdischen Kalenders, erlebt den Vater als spirituelles Oberhaupt, der sich nicht nur um seine eigene Familie, sondern auch aufopfernd um die übrigen Familien der kleinen Gemeinde emigrierter polnischer Juden kümmert, die sich im Norden von Paris mehr schlecht als recht eingerichtet haben.

21. Mai 1944. Sarah Kofman beschenkt zwei Frauen zum Muttertag. Allerdings ist in Paris mittlerweile niemandem mehr zum Feiern zumute. Der Vater ist verschwunden. Er war im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Die Mutter und ihre sechs Kinder haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Sie müssen sich verstecken. Sarah kann offenbar gefahrlos in der Rue Custine Muttertagsgeschenke einkaufen. In ihrer Autobiografie erfahren wir weiter, dass diese andere Frau, der das Kind die schönere Postkarte schenken wird, Sarah als ihre Tochter ausgibt, wenn sie mit ihr im besetzten Paris außer Haus geht. Die Mutter bleibt in der Wohnung versteckt.

"Eines Tages läuteten alle Glocken von Paris gleichzeitig. Tags darauf gingen wir zu Fuß bis zu den Champs-Élysées, um die Parade zu sehen. […] Einige Frauen aus dem Haus hatten auf einmal rasierte Köpfe, und man sah mit Überraschung manchen Mieter, der am Abend zuvor noch kollaboriert hatte, eine Armbinde der Widerstandskämpfer zur Schau stellen! Das war die Befreiung von Paris. Und die meiner Mutter."

14. September 1944. Sarah Kofman wird zehn Jahre alt. Sie darf wieder zur Schule gehen. Sie wünscht sich, bei der "Dame aus der Rue Labat", die sie Mémé nennt, zu bleiben. Diese schenkt ihr Bücher und einen Malkasten. Ihre Mutter hat dafür jedoch wenig Verständnis. Sie verbietet ihrer Tochter, die Französin, die ihrer beider Leben gerettet hat, wiederzusehen. Das Kind geht trotzdem in die Rue Labat. Zuhause erwartet es die Mutter mit der Klopfpeitsche.

Der persönliche und der große Krieg

Schließlich kommt es zu einem improvisierten Prozess vor einem Gericht von Widerstandskämpfern: Die Mutter versucht, ihr Kind ein für allemal zurückzugewinnen. Als Sarah jedoch vor dem Gericht ihre blauen Flecken zeigt und damit beweist, dass ihre Mutter sie schlägt, wird sie Mémé zugesprochen. Ihre Mutter schäumt vor Wut und Verzweiflung. Sie kommt noch in derselben Nacht zur Wohnung von Mémé und holt in Begleitung zweier starker Männer ihre Tochter zurück. Sarah wehrt sich nicht. Sie fühlt sich sogar erleichtert.

In ihrer Autobiografie berichtet Kofman von dieser Kindheit während der Okkupation von Paris, von diesem kleinen Krieg, ihrem persönlichen Krieg inmitten des großen, des unpersönlichen Kriegs. Den autobiografischen Text hat Sarah Kofman lange angekündigt - geschrieben hat sie ihn jedoch zuletzt. Ihr erstes Buch, "Die Kindheit der Kunst", erscheint 1970 in Paris und macht sie in französischen Intellektuellenkreisen bekannt. Sie hat dieses Buch ihrer zweiten Mutter gewidmet, jener Frau, die sie das erste Mal Bücher zu lesen, Bilder zu betrachten und Musik zu hören lehrte: "Für Mémé, die - indem sie mir das Leben gerettet hat - mir als erste ermöglicht hat, dieses Buch zu schreiben."

Mit ihrer leiblichen Mutter versteht sich Kofman immer schlechter. Schon während der ersten Studienzeit wird klar, dass sie aus dem gemeinsamen Haushalt mit der Mutter hinaus muss. Sie braucht ein Zimmer für sich allein. Sie liest heimlich unter der Bettdecke Sartres "Wege zur Freiheit". Simone de Beauvoir wird ihr Vorbild. Später wird sie Kinder und Ehe in Interviews mit der Tageszeitung Le Monde empört ablehnen - sie sei ein durch und durch urbaner Mensch.

Zu ihrer leiblichen Mutter ist Kofman in einer echten Hass-Liebe gefangen: Als Kind kann sie nicht ohne die Mutter sein. Als sie zuerst getrennt von ihr versteckt wird, verweigert sie die ihr angebotene unkoschere Nahrung. In der Schulzeit ringt sie um Anerkennung nicht nur von ihren Lehrerinnen, sondern gerade auch von der Mutter. Kommt diese dann aber zur Aufführung eines Theaterstücks, in dem Sarah mitspielt, und zeigt sich überschwänglich begeistert von ihrer Tochter, ist es jener wiederum peinlich. Während ihrer Studienzeit verweigert sie dann das koschere Essen ihrer Mutter, weil diese ihr verbieten will, an der Universität zu studieren. Die Mutter besteht darauf, dass Sarah wie die anderen Geschwister arbeiten geht, um "Geld nach Hause zu bringen". Sarah meidet in Zukunft jeden Kontakt mit ihrer Mutter. Sie wird sie nur noch wenige Male vor deren Tod 1974 sehen.

Im Gegensatz zur scheinbar verständnislosen Mutter steht Mémé, die alle Hebel in Bewegung setzt, um Sarah einen Stipendienplatz und ein Studentenzimmer zu ermöglichen. Kaum beginnt aber das richtige Studentenleben, bricht Sarah auch den Kontakt zu Mémé, die in ein Altersheim an der französischen Atlantikküste zieht, ab. Auch sie wird sie nur noch selten besuchen, immer in Begleitung ihres Lebensgefährten, der ab und zu ein Foto von den beiden Frauen macht. Mémé stirbt 1989, nur fünf Jahre bevor Sarah freiwillig aus dem Leben scheidet.

"Ich konnte nicht zu ihrer Beerdigung gehen. Aber ich weiß, dass der Priester an ihrem Grab daran erinnerte, dass sie während des Krieges ein kleines jüdisches Mädchen gerettet hat."

"Von ihm habe ich nur noch den Füller …"

Das sind die Schlussworte der Autobiografie. Sie beginnt mit der Geschichte des kleinen jüdischen Mädchens und endet mit dem Tod jener Französin, die Sarah während des Krieges vor dem Tod bewahrt hat. Diese Frau ist es, die an das Kind glaubt, die es "trotz seiner jüdischen Nase" liebt und der es ein Anliegen bleibt, dass es gesund und gebildet ist. Sarah wählt sich eine neue Mutter, eine, die ihre Eigenheit erkennen und fördern wird. Sie entscheidet sich für die elegante Französin, die Beethoven hört, gibt ihr den Vorzug vor ihrer leiblichen Mutter, die kein Französisch spricht und sich auf Jiddisch beklagt. Am Muttertag 1944 wird ihr dieser Verrat an der Mutter und vielleicht an einer gesamten Kultur, der des polnischen Chassidismus, bewusst. Aber sie will, sie muss ausbrechen aus einer zu engen Tradition, die Frauen vorschreibt, was sie zu tun haben. Sie wird ein Kind der französischen Republik.

16. Jänner 1942. Der Rabbiner Berek Kofman geht die lange Rue Ordener über die Bahngleise des Nordbahnhofs von der Nummer 6 bis zur Nummer 115. Dort befindet sich das Büro des Friedensgerichts. Laut einem Dekret vom 14. Mai 1938 ist es in Frankreich geborenen, aus legalen Ehen stammenden Kindern ausländischer oder staatenloser Eltern gestattet, um die französische Staatsbürgerschaft anzusuchen. Der Vater sucht um diese an jenem Wintertag des Jahres 1942 für seine im 10. Pariser Arrondissement geborene Tochter Sarah an. Er zahlt dafür zwei Stempelmarken von je sechs Francs, legt seine befristete Aufenthaltsgenehmigung als Verdienstloser vor und unterschreibt zweifach mit ungelenker Hand. Vielleicht hat er dazu den Füller benützt, den seine Tochter viele Jahre später aus der Handtasche ihrer Mutter stehlen wird:

"Von ihm habe ich nur noch den Füller. Ich habe ihn eines Tages aus der Handtasche meiner Mutter genommen, in der sie ihn mit anderen Andenken an meinen Vater aufbewahrte. Einen Füller, wie es ihn heute nicht mehr gibt, und den man mit Tinte füllen musste. Ich habe ihn während meiner ganzen Schulzeit benutzt."

* Die Autorin arbeitet als Fellow abroad des Wiener Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Paris

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