Zwölf meisterhafte Essays über große Literatur

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Verklärte Josef Roth tatsächlich die österreichische Monarchie? Kurt Klinger macht dem Leser Mut, seine eigene Kritikfähigkeit zu schärfen.

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Verklärte Josef Roth tatsächlich die österreichische Monarchie? Kurt Klinger macht dem Leser Mut, seine eigene Kritikfähigkeit zu schärfen.

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Zwölf Essays hat der Dramatiker, Lyriker und Prosaautor Kurt Klinger in seiem Buch "Die Ungnade der Geburt - Literatur als Schicksal" vereint. Zwölf funkelnde Edelsteine, deren Betrachtung den Blick schärft für das Wesentliche der Literatur: "Was die Protagonisten dieser Interpretationen - Büchner, Grillparzer, Rilke, Trakl, Werfel, Hofmannsthal, Roth, Arrabal und andere - über alle Gegensätze hinweg verbindet, ist das Erkennen, Erforschen und Erleiden der fragwürdigen Existenzbedingungen und der Abgründigkeit der menschlichen Natur." An der Machtlosigkeit des dichterischen Worts, der Verurteilung zum einsamen Ertragen erwies sich die Ungnade, der sie sich ausgesetzt sahen. Hofmannsthal hat es auf bleibende Weise gesagt: "Wir sind nicht der Arzt, wir sind die Schmerzen."

Klinger nimmt Literatur ernst. Er liebt sie. Er schwelgt aber nicht, bleibt kühl im Kopf, wenn er auch ein heißes Herz verrät. Der Erfahrene spricht nie von oben herab. Sein Standpunkt ist in Augenhöhe des Lesers, will sagen: Den Einwand, dass da einer über Texte schreibt, die man doch einfach selber lesen könnte, entkräftet er, indem er selbst gegen den Strich liest. Ein Beispiel: Joseph Roth. Dieser Romancier wurde bisher gern als verklärender Sänger der untergegangenen österreichischen Monarchie abgestempelt. War er das? Er war mehr. Kurt Klinger beweist es. Er zeigt Roth als Untersuchungsrichter, der 1929 klagt: "Ich habe dem Menschen der Gegenwart sein eigenes Bild vorgehalten. Kein Wunder, dass er es nicht ansehen will. Es graut ihm davor - und noch mehr als mir." Klinger äußert sich klar zur Rolle des Schriftstellers: Nicht billige Parteinahme sei seine Sache, aber auch nicht abgehobenes Darüberstehen: "Dazu sind Schriftsteller auf der Welt, dass sie ein Werk gestalten, das die Eingebundenheit des Einzelnen in jede Wendung des Gesamtschicksals zum Besseren oder zum Unheilvollen bezeugt und zur Selbstprüfung ermutigt."

Wie, mit welchen Mitteln prüft er? Genaues Lesen ist die Grundlage. Andererseits schaut er Dichtern prüfend ins Gesicht - im wörtlichen Sinn. Was er etwa aus Fotografien Trakls oder Rilkes herausliest, ist beeindruckend: bei Trakl unterdrückte Gewaltbereitschaft, bei Rilke "Schrecken, Abwehr, Einsamkeit, ein Durchfrösteltsein von bösen Erwartungen." Aber Rilke war kein Opfer widriger Zeitumstände oder politischer Katastrophen wie etwa Joseph Roth. Auch hier schärft Kurt Klinger den Blick. Selbst für einen von betuchten Freunden Verwöhnten wie Rilke, der nichts zum Lebensunterhalt beitragen musste, denn immer standen ihm fremde Schatullen offen, müssen Lebensbedingungen und Lebensgefühl nicht übereinstimmen. Banal ausgedrückt: Die Hölle kann man sich auch selbst inszenieren. Das also ist ein Aspekt dieses wirklich spannenden Buches: Klinger ist ein so unkonventionell Denkender, dass er den Leser mutiger macht, auch seine eigene Kritikfähigkeit zu schärfen. Der zweite Aspekt ist Klingers Sprache. Hier schreibt ein Mann, der sich sein Deutsch nicht auf Fünf-Wörter-Sätze einengen lässt. Seine Pranke ist die eines Löwen. Er verlangt vom Leser Konzentration und belohnt ihn mit Wissensbereicherung. Dieser wahre Freund der Literatur hat zwar nie in seinen 72 Lebensjahren Zeit in Klüngeln verschwendet, er hat jedoch viele gekannt, über die er schreibt. Seine Beobachtungen sind also oft aus erster Hand, etwa die der österreichischen Lyrikerin Hertha Kräftner, die sich mit 23 Jahren das Leben nahm. Klinger macht bewusst, wie wenig ein Mensch im Umgang mit anderen von sich preisgibt, wie viel aber durch das, was er schreibt.

Klinger ist ein hochpolitischer Autor. Sein Engagement für Menschlichkeit, Mut und Offenheit zeigt sich in jedem Satz, jedem Gedanken. Er holt auch die Schriftstellerkollegen, denen er diese Essays gewidmet hat, auf den Prüfstand. Nicht alle bestehen unbeschadet. Nach einem Motto von Manes Sperber - "besser allein auf dem richtigen Weg, als mit anderen zusammen auf dem falschen" - nähert sich hier ein Schriftsteller fremden Werken mit feiner Klinge, ja Bravour. Überflüssiges Rankenwerk schneidet er weg, zeigt, dass Sprache der letzte Besitz der Besitzlosen ist, weckt Verständnis für schwierige, aber lohnende Texte. Wer sich seiner klugen Führung anvertraut, kann Literatur klischeefrei kennenlernen. Was Literaturprofessoren häufig nicht schaffen, hier gelingt es: Lesen wird zur Herausforderung. H. A. Niederle hätte sich in seinem Nachwort mehr Mühe geben können, dieser großen Essayistik gerecht zu werden.

Die Ungnade der Geburt Literatur als Schicksal Von Kurt Klinger edition Kappa, München 2000 250 Seiten, geb., ÖS 270.- /e 19,62

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