Die lebende Fabrik
DISKURSAusgeschlachtet
Wann wird das Tier zum Fleisch? Für den Investor noch vor seiner Geburt. Über das Verhältnis zwischen Nutzen- und Respektperspektive.
Wann wird das Tier zum Fleisch? Für den Investor noch vor seiner Geburt. Über das Verhältnis zwischen Nutzen- und Respektperspektive.
Bis zu 1 kg pro Tag haben die im Oktober […] eingekauften Jungrinder zugelegt. Die Spitzentiere legten in diesem Zeitraum rund 250 kg zu. Dieser rasante Zugewinn an Fleisch bedeutet eine schnelle Wertsteigerung der Investition ‚Rind‘.“ Mit diesen Worten wirbt ein Investmentunternehmen für Fleisch als Geldanlage. Neben Immobilien, Goldbarren und einer Reihe weiterer Realgüter wird auch Fleisch angeboten, um sein Geld sicher und gewinnbringend zu veranlagen.
Wann wird das Tier zum Fleisch? Für den Finanzinvestor schon zu einem Zeitpunkt, da es noch gar nicht existiert. Auf den ersten Blick mag das überraschen. Doch in Wirklichkeit nehmen wir fast alles in unserer Umwelt ständig auch unter dem Aspekt des Nutzens für uns wahr. Und in dieser Hinsicht ist ein essbares Tier eben Fleisch und hat einen Preis. Der Tierzüchter bemüht sich, Tiere mit optimalem Fleischansatz zu züchten. Der Landwirt fragt sich, wie sein Einsatz an Geld und Arbeitsleistung im Verhältnis zu dem Ertrag steht, den er aus dem Verkauf des schlachtreifen Tieres erzielt. Der Manager eines Schlachtbetriebs schaut darauf, dass die Schlachtung möglichst schnell und effizient abläuft – schon vor über 150 Jahren wurden Rinder in Chicago am Fließband geschlachtet, das eine Erfindung der Schlachtindustrie und nicht der Automobilindustrie ist.
Der Zerleger trennt möglichst präzise „wertvolle“ Teile des Schlachtkörpers von „wertlosen“. Und schließlich schauen wir Konsument(inn)en beim Fleischeinkauf auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. Von der Wiege bis zur Bahre werden „Nutztiere“ unter Nutzenaspekten betrachtet – von allen Beteiligten.
Es gilt die Interessen offenzulegen
Das heißt aber nicht, dass wir die Tiere ausschließlich unter Nutzenaspekten betrachten. Manchmal nehmen wir sie gleichzeitig als eigenständige Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen, individuellen Verhaltensweisen und einem einzigartigen sozialen Beziehungsnetz wahr. Wenn ein Züchter sich auch darum bemüht, gesunde Tiere zu züchten, die sich in ihrer Haut wohlfühlen können. Wenn eine Landwirtin zu ihrem Tier eine persönliche Beziehung aufbaut und sich fürsorglich um es kümmert. Wenn ein Schlachter das Tier noch im Moment seiner Tötung respektvoll behandelt und alles tut, um Angst und Schmerz auf das unumgängliche Minimum zu reduzieren. Wenn ein handwerklicher Metzger gelernt hat, alle Teile des geschlachteten Tieres zu verwerten, auch die unansehnlichen und angeblich „minderwertigen“. Wenn Konsument(inn)en bereit sind, einen deutlich höheren Preis für ihr Fleisch zu bezahlen, sofern das Tier dafür artgerecht(er) gehalten wird.
Nie können wir uns völlig davon freimachen, unser Gegenüber – sei es ein Mensch oder ein anderes Tier – unter dem Aspekt des Nutzens für uns zu betrachten. Wer dies behaupten würde, würde sich selbst in die Tasche lügen. Wichtig ist nicht, die Nutzenperspektive völlig aufzugeben, sondern, sie selbstkritisch wahrzunehmen und zu reflektieren. Es gilt die eigenen Interessen offenzulegen, denn in der einen oder anderen Form existieren sie immer und in jeder Situation. Interesselos ist niemand. Darüber hinaus müssen wir beständig prüfen, ob die Nutzenperspektive und die Respektperspektive im Umgang mit einem
konkreten Lebewesen im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Genau darum ging es bereits Immanuel Kant. In seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ unterscheidet Kant zwischen Würde und Preis.
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