"Böse Österreicher" und "gute Europäer"
Das Verhalten der "bösen Österreicher" ruft in Europa Entrüstung und Entsetzen hervor. Man sollte den Spieß umdrehen und auch nach den Beweggründen und Triebfedern hinter den Aktionen der "guten Europäer" fragen, meint der Autor dieses Beitrags.
Das Verhalten der "bösen Österreicher" ruft in Europa Entrüstung und Entsetzen hervor. Man sollte den Spieß umdrehen und auch nach den Beweggründen und Triebfedern hinter den Aktionen der "guten Europäer" fragen, meint der Autor dieses Beitrags.
Feuilletonisten im In- und Ausland haben derzeit ein Modethema: Die Psychoanalyse und die politisch-psychiatrische Fallbeschreibung des psychisch gefährdeten und in "political uncorrectness" abgeglittenen Österreichers. Wie konnte er sich dem Rassismus oder gar einem neuen Faschismus ergeben? Ist er das Opfer langwährender Verdrängungen, der eigenen unaufgearbeiteten Vergangenheit? Ist er in besonderem Grade psychisch labil?
Kluge und weniger kluge Diagnosen wurden präsentiert.
Die offiziell praktizierte Therapie ist um einiges grobschlächtiger: Verbringung in die Isolierzelle, Liebesentzug, das Winken mit dem Rohrstock - anscheinend die fortschrittlichsten Methoden pädagogisch-politischer Beeinflussung eines ungezogenen Familienmitglieds ...
Oft übersehen freilich Kommentatoren und Karikaturisten eines: nicht "den Österreicher" dürfte man als Patienten oder Delinquenten betrachten - schließlich hat gerade mal ein Viertel der österreichischen Wählerinnen und Wähler jene Partei gewählt, deren Regierungsbeteiligung das europaweite Entrüsten und Entsetzen auslöste. Diese Partei selbst ist, wie es scheint, in Veränderung begriffen: Anläßlich der Koalitionsbildung hat sie sich, vom Bundespräsidenten ins Gebet genommen, mit so prägnanten Formulierungen zu den demokratischen und humanistischen Grundwerten bekannt, daß man froh sein könnte, gäbe es solche Zusicherungen von allen anderen in EU-Staaten einflußreichen politischen Kräften.
Zugegeben, nicht alles, was seither von Freiheitlichen (nicht zuletzt vom abgetretenen Obmann) zu hören war, klingt wie die Bekräftigung des offiziellen Credos. Aber ist das verwunderlich? Nur selten bewirken Entschlüsse zur Umkehr sogleich das Absterben aller Neigungen und Regungen des "alten Adam"; meist macht die neue Selbstfindung Mühe, und sie braucht Zeit. Gerade dann, wenn sie nicht bloß einen Als-ob-Charakter haben soll.
Die Psychologie von Umorientierungen, kollektiven Lernprozessen, gar Bekehrungen ist eine komplizierte und heikle Sache. Da ist es einfacher, sich mit einschichtigen Urteilen zu begnügen: Die Österreicher sind arg, wir übrigen guten Europäer haben Grund, uns auf die Schulter zu klopfen, weil wir eine so feine Wertegemeinschaft aufbauen.
* Es gibt indessen auch eine andere Art der Auseinandersetzung mit dem Geschehen um Österreich: man kann den Spieß umdrehen und nicht nur nach den vorder- und hintergründigen Ursachen und Auslösern des Verhaltens von Österreichern (Wählern, Politikern...) fragen, sondern umgekehrt nach Beweggründen und Triebfedern, die hinter den Aktionen der "guten Europäer" stehen.
Nicht nur die österreichische Politik kann als befremdlich und erklärungsbedürftig empfunden werden, sondern auch die Reaktion darauf. Immerhin gab es massive Sanktionen gegen eine Regierungspolitik, die noch gar nicht begonnen hat.
Auch dazu las man Beiträge und Kommentare, mit unterschiedlichem Inhalt. Hin und wieder ist eine Verschwörungshypothese ins Spiel gebracht worden: Sozialisten aus etlichen Ländern hätten sich zusammengetan, um den östereichischen Genossen beim Machterhalt zu helfen. Oder es wurde auf persönliche Animositäten (etwa des französischen Präsidenten gegenüber Haider und den Österreichern überhaupt) hingewiesen.
Doch sollte man simplen Patenterklärungen mißtrauen. In gesellschaftlichen und politischen Vorgängen treffen zumeist viele Mechanismen und Motive zusammen. Ob es lehrreich wäre, die Vielfalt von Kräften und Konstellationen zu vergegenwärtigen? Auch wenn es zu viel verlangt wäre, alle womöglich wirksamen Faktoren namhaft zu machen, gar ihren Anteil am Ganzen zu bestimmen.
1. Vielleicht sind ganz fundamentale Reaktionsmuster im Spiel. Ein Sachkundiger hat gemeint, die Entrüstung über Österreich sei ein "Sündenbock"-Geschehen. Das läßt womöglich an einen altjüdischen Brauch erinnern, von dem irgendwann einmal im Religionsunterricht die Rede war. Aber es geht nicht nur um Bräuche. Der Kulturwissenchaftler Rene Girard ist durch ein Buch berühmt geworden, in dem er darlegt, daß so gut wie alle menschlichen Gesellschaften von Rivalität und Gewalttätigkeit durchdrungen sind, und daß sie davon loskommen, indem sich alle gegen ein Mitglied der Gruppe (oft willkürlich oder zufällig ausgewählt) zusammentun, ihre Aggressivität auf diesen "Sündenbock" projizieren und bündeln - und in seiner Ausstoßung ihren Frieden finden. Erst später sei dies zu heiligen Opferritualen sublimiert oder durch die Solidarisierung gegen einen äußeren Gegner ersetzt worden; noch in der organisierten Justiz würden entsprechende Mechanismen untergründig nachwirken.
Negative Solidarität Auch heute meinen Sozialpsychologen, nichts kräftige den Zusammenhalt in menschlichen Gruppen stärker als ein gemeinsamer Feind. Die Sache ist nur zu bekannt: ohne Antisemitismus keine "deutschblütige Volksgemeinschaft", ohne Stalinismus und kommunistische Gefahr keine "Einigkeit der Freien Welt" 2. Wären diese Mechanismen nicht schon bekannt - die "guten Europäer" hätten allen Anlaß, sie zu entdecken oder zu erfinden. Die Integration ist zum Erfolg verurteilt, alle Mitgliedstaaten der EU haben sich auf die "immer engere Union der europäischen Völker" festgelegt. Und doch sieht es so aus, als würde die EU immer mehr unter Problemdruck geraten. Allenthalben gibt es Klagen über die Unfähigkeit zu unvemeidlichen Reformen, Sorgen angesichts der Erweiterung, Frustration über "mangelnde Bürgernähe" oder über die geringen Fortschritte bei der Entwicklung der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik. Immer wieder stellt sich heraus, daß die Mitgliedstaaten uneins darüber sind, was denn nun die nächsten großen Schritte der Einigung sein sollten.
Da wünscht sich so mancher wenigstens irgendeine spektakuläre Demonstration des gemeinsamen Wollens - möglichst im Zeichen "europäischer Werte". Aber solche lassen sich eben am ehesten gegenüber einer gemeinsamen Bedrohung, gegenüber einem gemeinsamen Feind aufs Panier heben. So hat man in Berlin angesichts der Aktionen der Vierzehn gegen Österreich von einem "neuen Kapitel der europäischen Geschichte" gesprochen, und Korrespondenten vermerkten eine "regierungsamtliche Begeisterung" darüber.
Das lag nahe, da ja die EU in den Augen von Rot-Grün ohnehin eine marktwirtschaftliche Schlagseite hat; früher gab es das Wort vom "Europa der Konzerne", von der EWG als "Bürgerblock". Neue Akzente, etwa im Zeichen der Festschreibung sozialdemokratischer Grundwerte (spricht: einer Verurteilung rechtspopulistischer Tendenzen) konnten da nur gelegen kommen, zumal Blair und Schröder stolz erklärt hatten: "In fast allen Ländern der Europäischen Union regieren Sozialdemokraten". Kann man sich wundern, wenn sie Gelegenheiten suchen und finden, das Schiff der Integration auf ihren Kurs zu bringen?
3. Gleichwohl wäre es verfehlt, so etwas wie eine Verschwörung zu unterstellen. Näher läge es, an eine historische Parallele zu denken: Bruno Kreisky hatte es in den siebziger Jahren fertig gebracht, daß mehr und mehr Österreicherinnen und Österreicher das politische Grundkonzept der Sozialdemokratie unter dem Titel "der österreichische Weg" sozusagen mit der Staatsräson der Zweiten Republik identifizierten. (Daß sich das nun grundlegend geändert hat, ist einer der Gründe für das Entsetzen der SPÖ angesichts der neuen Lage.)
Nun bietet sich die Chance einer stärkeren Durchdringung des "Projekts Europa" mit sozialdemokratischem Geist, und die formelle Verpönung von "Bürgerblock"-Tendenzen mag ein probates Mittel sein, das sozusagen zu fixieren, indem man ein Exempel statuiert. Jedenfalls entspricht dies, vordergründig zumindest, der sozialdemokratischen Interessenlage, egal ob man in entsprechenden Führungszirkeln über einen entsprechenden "Master-Plan" nachgedacht hat oder nicht.
Beleidigter Chirac 4. Ein Einwand liegt auf der Hand: Unter den Vierzehn sind ja auch Nichtsozialisten - manche von ihnen haben sich sogar ganz besonders gegen die neue österreichische Regierung engagiert, etwa Frankreichs Präsident Jacques Chirac - die die politische Konstellation mitprägen. Chirac hat sich in den vergangenen Jahren oft genug über die österreichische Politik geärgert, und daß er nachtragend ist, wird oft genug kolportiert.
Vielleicht spielen auch noch andere spezielle Interessen und Kalkulationen mancher Akteure eine Rolle; nur einige Stichworte sollen andeuten, was da bedacht werden könnte: * Eine Präsidentschaft kann sich profilieren, indem sie Stärke demonstriert (was dem Regierungschef eines kleinen Landes eher leichtfällt, wenn sich die Aktion gegen einen ebenfalls kleinen Mitgliedstaat richtet).
* Manche Beteiligte mögen vielleicht Sanktionen gegenüber der österreichischen Regierung als Demonstration an andere Adressaten ins Auge gefaßt haben - etwa gegenüber Beitrittsaspiranten; von ihnen verlangt man mit besonderem Nachdruck "political correctness", und das wirkt weder fair noch glaubwürdig, wenn solche "correctness" nicht auch von Staaten eingefordert wird, die schon Mitglied sind.
* Womöglich fürchten manche einen "Dominoeffekt", wenn der Rechtspopulismus in einem Mitgliedstaat auf Dauer Fuß faßt (die Sieger des Ersten Weltkrieges glaubten 1919, nun sei die Demokratie in Europa, abgesehen freilich von Sowjetrußland, gesichert; aber bis 1938 waren von den 26 politisch relevanten Staaten Europas 17 in autoritär-nationalistische Regime abgeglitten, ein Drittel davon stand unter faschistischer Herrschaft).
Besonders bedenklich würde vielen Europäern eine Entwicklung der Art erscheinen, daß die CDU in Deutschland ähnlich zusammenbricht wie vor Jahren die Democrazia Cristiana in Italien, und daß sich in der Bundesrepublik Kräften, die der FPÖ Haiders entsprechen, eine Chance des Machtgewinns bietet.
* Es dürfte kaum ein Zufall sein, daß gerade in jenen Ländern besonders laut über Österreich hergezogen wird, wo man selbst Sorgen angesichts rechtpopulistischer Tendenzen haben und sich mit spezifischen Formen der Poloitikverdrossenheit auseinandersetzen muß; also zum Beispiel in Frankreich oder in Belgien (wenn Politiker, etwa in Kärnten oder in der Steiermark, mit Pathos auf solche Zusammenhänge hinweisen, mag das unklug und politisch kontraproduktiv sein; in einer Problemanalyse sollte es dennoch nicht mit Schweigen übergangen werden).
Alte Ideen 5. Besonders auffällig war wohl, daß in der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) gar über den Ausschluß ihres österreichischen Zweiges, der ÖVP, geredet wurde. Der Vorgang hat sowohl eine Vergangenheits- wie eine Gegenwartsdimension.
In der Vergangenheit machten jahrelang zwei europäische Parteienbünde der Christdemokraten von sich reden. Die EVP einerseits, die "Europäische Demokratische Union" (EDU) andererseits. Der EVP gehörten nur christdemokratische Parteien an, der EDU auch andere konservative und bürgerliche Kräfte. So stand die EDU deutlich rechts von der EVP. Es sprach Bände, daß die Generalsekretäre beider europäisch-christdemokratischer Parteienbünde (der eine saß damals in Wien, der andere in Brüssel) Jahre hindurch nicht an einen Tisch zusammenkamen. Später verlor die Konstellation dadurch etwas von ihrer Seltsamkeit, daß die EDU ihren Namen änderte, in "Internationale Demokratische Union", und ihren Einzugsbereich über die EG/EU hinaus verbreiterte.
Inzwischen ist das Schnee von gestern. Heute spielt ein anderer Umstand eine Rolle: In der EVP gibt es seit langem die Überzeugung, daß die EU dringend der politischen Stärkung bedarf; das hat sich auch im Projekt einer Verfassung für die Union artikuliert. Eben dazu ist aber eine souveränitätsüberwindende Gemeinschaftsvertiefung unerläßlich, denn nur dann kann sich eine nationale Interessen übergreifende Verfassungsloyalität herausbilden und festigen. So ist man gerade in der EVP an einer an rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien orientierten politischen Solidaritätsverfestigung interessiert. Dazu paßt es, daß die Präsidentin des Europäischen Parlaments Nicole Fontaine sich für ein Recht der Union auf demokratiesichernde Intervention ausgesprochen hat.
Neu ist das nicht: Wenn vor über 25 Jahren der damalige deutsche Kanzler Helmut Schmidt andeutete, daß zwar noch nicht heute, aber wohl in Zukunft "eine europäische Regierung oder ein europäisches Parlament so viel Gewicht, Kraft und Einfluß bekommen, daß sie nationale Fehlentwicklungen korrigieren können", dann war das schon damals keine neue Idee. Schon die Väter der Nachkriegs-Europapolitik, nämlich ihre Vordenker in den Widerdstandsbewegungen und in den demokratischen Exilgruppen während des Zweiten Weltkrieges, sahen eines der Hauptziele der künftigen europäischen Einigung darin, daß keine Nation mehr die Möglichkeit haben sollte, von der rechtsstaatlich-demokratischen in eine autoritäre oder gar faschistische Ordnung zu geraten. Dagegen müßte die europäische Staatengemeinschaft zum Einschreiten befugt sein, und eben deshalb sei die Überwindung der einzelstaatlichen Souveränität nötig - freilich nicht zugunsten willkürlicher Entscheidungen einer Mehrheit, sondern nach Maßgabe einer nationenübergreifenden Rechtsordnung.
Ganz von ungefähr kommen also derlei Interventionsideen nicht; ihre Umsetzung wird von den Verfechtern der Verfassungsvertiefung als Beleg für den Fortschritt betrachtet.
Haben die Vierzehn mit ihren Aktionen tatsächlich der europäisch-demokratischen Wertegemeinschaft und ihrer politischen Auskristallisierung einen guten Dienst getan? Das ist wohl eine andere Frage (siehe dazu furche 6/2000, Seite 3).
6. Ein weiteres kommt hinzu. Politik ist in der Erlebnis- und Mediengesellschaft mehr und mehr zum Unterhaltungsgeschehen geworden. Man erwartet von ihr einen materiellen und einen seelischen Wellness-Beitrag. Europapolitik hat es dabei besonders schwer: sie spielt sich weit weg vom Alltagsleben ab, immer wieder hat man ihre fehlende "Bürgernähe" beklagt.
Nun aber gibt es eine Inszenierungschance, die das ändert: Sie vermittelt das Gefühl der moralischen Aufrüstung: "Wir stehen für etwas", sagen die "guten Europäer", nämlich für die Demokratie, für die Humanität (gegen den Rassismus, gegen faschistische Gefahren ...); nach vielen Frustrationserlebnissen wird sozusagen das politische Selbstwertgefühl gestützt.
Doch was noch wichtiger ist: der "Mann auf der Straße" wird in die "Wertegemeinschaft" ganz handfest und konkret einbezogen. Die notorische Klage über die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten des Normalbürgers am historischen Werk der europäischen Einigung wird obsolet. Viele Jahre lang hatten die politischen Jugend- und Erwachsenenbildner darüber gejammert, daß es kaum Chancen gebe, die politischen Tugenden des Unionsbürgers real und konkret einzuüben und zu praktizieren. Nun aber darf der Taxifahrer Österreichern die Beförderung verweigern; Schülereltern können der Demokratie zuliebe ihre Kinder von der Skiwoche in Österreich abmelden; Urlaubsreisen zu stornieren ist ein gutes Werk und die Verunzierung von Autos mit dem "A" am Heck mit Hakenkreuzen wird zum Bekenntnis guten Europäertums. "Das gibt mir was", mag der eine oder andere Mitwirkende im Bewußtsein befriedigter Entrüstung gemeint haben ...
Zugegeben, das klingt fast zur Karikatur überzeichnet. Aber wenn die "europäische Wertegemeinschaft" für viele Wohlmeinende zum erstenmal ein Stück auf der Bühne der "Erlebnisdemokratie" (Günther Nenning) wird, in dem man selbst mitspielen kann, ist das womöglich doch "echt cool". Selbst wenn auch in diesem Fall "gut gemeint" nicht immer mit "gut" gleichgesetzt werden sollte.
Die "neuen Serben"?
Ist das alles zusammengenommen geeignet, das Geschehen zu erklären? Vielleicht. Aber "Erklären" heißt hier nicht: gute Gründe namhaft machen, damit man sich beruhigt dem Alltagsgeschäft zuwenden kann.
Klarerweise hängt die Einschätzung alles dessen, wovon eben die Rede war, davon ab, wie man das Geschehen in Österreich einschätzt. Wenn hierzulande tatsächlich der Faschismus vor der Tür stünde, dann wären wohl noch weit drastischere Reaktionen angemessen. Aber mehr und mehr kommen auch Beobachter und Kommentatoren aus anderen Ländern von solchen Überzeichnungen ab.
Wurde aber die in Jörg Haider personifizierte Gefahr überzeichnet, dann gibt das ganze Geschehen doch in einem anderen Sinn Grund zum kritischen Nachdenken.
Viele Europäer hatten (und haben vielleicht noch heute) Angst, daß in Österreich Schlimmes passieren könnte, mit Auswirkungen, die nicht auf Österreich beschränkt blieben.
Aber ist nicht, umgekehrt, auch Sorge angesichts dessen berechtigt, was sich im Umfeld Österreichs abspielt? Vorurteile lassen sich anheizen, Sündenbockmechanismen erweisen sich als aktivierbar, politische Kalküle lösen Wirkungen aus, die das Gegenteil dessen zur Folge haben könnten, was man beabsichtigt.
Vor wenigen Jahren wurden die Serben zum Sündenbock der "guten Europäer" (Peter Handke wurde zum Sekundärsündenbock erkoren, als er sich dem, zugegebenermaßen überzeichnend, widersetzte). Sind die Österreicher jetzt die neuen Serben? Rechnet man damit, daß sie ein Srebrenica veranstalten, Kosovaren vertreiben?
Kalte Ausgrenzung Auch wenn das unangemessen klingen mag - die dem Geist der Wertegemeinschaft gemäße und im Unionsvertrag proklamierte Solidarisierung, selbst mit einem strauchelnden Partner (wenn er denn außer Tritt käme und stolpern würde) fand nicht statt; stattdessen Ausgrenzung, Solidaritätsentzug, das Ins-Eck-Stellen, das Drohen mit dem Rohrstock. Mag auch eingewandt werden, dies richte sich nicht an die Österreicher, sondern nur an wenige Politiker - viele Kommentare und Karikaturen artikulieren das anders.
Ist dies alles der Gipfel demokratischer und humanistischer Kultur? Was hat es zu bedeuten, wenn so reagiert wird? Sollten wir nicht versuchen, uns von atavistischen Reaktionsweisen zu emanzipieren? Auf Kritik nicht zu verzichten, sie aber produktiv zu üben?
Das hieße zum Beispiel * nicht Beschlüsse zu fassen, ohne miteinander zu reden; * einander nicht wie Kranke oder Kriminelle zu behandeln, ohne vorher einen partnerschaftlichen Dialog zu führen; * gemeinsam zu versuchen, Gefahren zu identifizieren, Fehleinschätzungen abzubauen und Probleme zu lösen: * und selbstverständlich auch gemeinsam darüber zu wachen, daß unsere gemeinsamen Prinzipien Achtung finden.
Könnten wir uns dazu durchringen, dann wären wir wirklich "gute Europäer".
Der Autor lehrte an in- und ausländischen Universitäten Politikwissenschaft.