Clown-Nasen gegen KRIEGSELEND

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Gäbe es Kriege, wenn alle Menschen Clowns wären? Die Frage kam mir auf der Fahrt von Kiew Richtung Ost ukraine in den Sinn. Viele Schlaglöcher, viel Horizont und wenig Platz neben den mit Hauptstadt-Einkäufen bepackten Provinz-Ukrainern. Wäre ich im Marschrutka-Sammeltaxi sitzen geblieben, weiter nach Osten gefahren, wäre ich im Krieg gelandet. Ich stieg auf halbem Weg in Pryluky aus, so bin ich in den Nachkrieg gekommen. Am Platz vor dem Stadttheater empfing mich die auf einer Parkbank sitzende Bronzestatue von Mykola Jakowtschenko, eine Art ukrainischer Charlie Chaplin, Volksschauspieler in Sowjet-Zeiten. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: "Der Clown geht zur Manege." Ich ging ins Theater. Vorbei an Stuhlreihen, aus denen schon Jakowtschenko applaudiert wurde, folgte ich Kinderstimmen, kam in Proberäume und stolperte in ein Kuddelmuddel aus in die Luft geworfenen Seidentüchern, aus Ziehharmonika-Melodien, Jongliertellern auf Stäben, Ukulele-Klängen, Reifen, Bändern "Ras, dwa, tri", zählte eine Clownin den Takt: Eins, zwei, drei, im Rhythmus bleiben, werfen, fangen, rauf, runter, harmonisches Drehen, runde Bewegungen; wenn was runterfiel, aufheben, weiter drehen, schwingen, jonglieren - bis der Vorhang fiel. Verbeugung: Dutzende Kinder, vier Clowns; Applaus: viele Omas, kaum Opas, einige Mamis, ein, zwei Väter.

Heimat für Flüchtlinge

In Volksschauspieler Jakowtschenkos Zeiten und bis 1991 war Pryluky ein Sitz der sowjetischen Luftstreitkräfte und eine Basis für kernwaffentragende Langstreckenbomber. Heute ist die Stadt Hinterland und neue Heimat für mehr als 1000 Kriegsflüchtlinge. 2014 hatten sich Teile der Gebiete Donezk und Luhansk nach Russlands Annexion der Krim von der Ukraine losgesagt. Im anschließenden Krieg zwischen Regierungssoldaten und prorussischen Separatisten starben bis zu 50.000 Menschen. Ein Friedensplan für die Ostukraine liegt seit drei Jahren auf Eis, der Waffenstillstand existiert nur am Papier. Insgesamt müssen 1,6 Millionen Binnenvertriebene versorgt werden, beschreibt Rotes Kreuz-Generaldirektorin Liliia Bilous (siehe Interview) die größte Herausforderung für das Land und ihre Organisation. Die Lebensumstände der Flüchtlinge seien meist sehr prekär, sagt Bilous, und nach einer anfänglichen Welle der Hilfsbereitschaft sind sie zunehmend mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert.

Das macht Pryluky zu einem Zielgebiet für das Kriseninterventionsprogramm "Emergency Smile" der Rote Nasen Clowndoctors International. Der Leitgedanke dieser Einsätzen ist, dass Humor in Kriegsgräuel, Flüchtlingselend, körperlichen und seelischen Verwundungen sowie Hoffnungslosigkeit heilsam wirken und neue Lebensfreude zu Menschen in größter Not bringen kann. "Menschen, die alles verloren haben, empfinden ein Lachen -nach der Grundversorgung mit Essen, Decken, Zelten, Medizin -als eines der größten Wunder und Geschenke", sagt der künstlerische Leiter von Rote Nasen International, Giora Seeliger: "Selbst die Tragödie braucht Luft. Kinder wollen lachen, über das Lachen können sie ihre Herzen wieder öffnen."

Die Schlüssel zu den Kinderherzen im Stadttheater von Pryluky waren an diesem Tag die Clown-Kunst und die roten Nasen in den Gesichtern von Marco, Mario, Jan und der Clownin mit der Ziehharmonika Polina. Sie kommt aus Deutschland, ihre Familie hat russische Wurzeln, die Clowns sind aus Tschechien und Slowenien. Bunte Truppe. Marcos Hauptberuf ist Clowndoctor in einem Krankenhaus in Rijeka. "Clowns gehören ins Schlamassel", definiert er seinen Arbeitsplatz, "wir sind emotionale Waschmaschinen, wir waschen Frust, Trauer, Hoffnungslosigkeit weg."

Das war auch Marcos Rolle im Team. Seit drei Wochen gondelten sie bereits zusammen durchs Land, um dunkle Stimmungen hell zu waschen. Da konnte es schon passieren, dass in der Früh bei der Fahrt ins nächste Waisenhaus oder in die nächste Schule mit geistig beeinträchtigten Kindern die Stimmungsfarbe im Tour-Bus so gar nicht nach roten Nasen ausschaute. Dann begann Marco an seiner Ukulele zu zupfen, bis sich die Saitenklänge zur Titanic-Filmmusik verwoben, und er und seine Kollegen über den Untergangs-Hadern und sie vier mitten drin laut lachen mussten. Der Bus mit super motivierten und gut gelaunten Clowns konnte auf den Parkplatz des nächsten Smile-Einsatzortes einbiegen.

"Die Kinder fragten seit Wochen: Wann kommen endlich die Clowns?", erzählte Elena Okhrimenko, die Rotes Kreuz-Chefin von Pryluky. Frau Okhrimenko wäre die Idealbesetzung für die klassische Rolle der Krankenschwester in Kriegsfilmen, die auch im größten Chaos nicht Mut, nicht Kraft, nicht Eleganz verliert. Den Clowns streute sie nur Rosen. Diese Art mit Humor gegen Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit zu arbeiten, sei ein Energiepool für Kinder, Eltern, sie und ihre Mitarbeiter. Der Alltag in der Ukraine ist für die Eingesessenen schwierig genug, sagte sie, für die Vertriebenen ist er oft nicht zu bewältigen: "Bei uns fallen keine Schüsse, aber es gibt viel negative Energie: Die Menschen flohen vor dem Krieg, aber der Krieg blieb wie ein Stempel auf ihnen haften." Die RK-Chefin erzählte auch, dass die Einheimischen keine Freude mit den Flüchtlingen hätten und generell keine großen Sympathien gegenüber den Landsleuten aus dem Osten pflegten. Okhrimenko: "Die Männer tragen die Aggressionen in die Familien - alle bräuchten Hilfe."

Horizonterweiterung

Da seien Clown-Lehrstunden eine große Horizonterweiterung. Und mit den Workshops für die Kinder, mit Handarbeit, Basteln, Ausflügen erreiche man zudem immer mehr Eltern. Als positives Beispiel nannte Frau Okhrimenko den zehnjährigen Wowa. Vor vier Jahren floh er mit seiner alleinerziehenden Mutter aus Donezk. Für beide ein Schock. Die Mutter suchte Trost im Alkohol, der Sohn glaubte im aggressiven Verhalten Schutz zu finden. Bis im Vorjahr die Clowns kamen. Die psychologische Betreuung durch das Rote Kreuz ging nach der Abreise der Roten Nasen weiter, und Wowa fand zum Kindsein ohne Gewaltausbrüche zurück. Das bestärkte die Mutter, die Zukunft auf ihren Sohn Wowa und nicht auf den falschen Freund Wodka zu bauen. "Die Situation der Familie drehte ins Positive", sagte die RK-Chefin, "und so wie Wowa und seiner Mutter geht es vielen."

Am Tag darauf, die Clowns tranken vor der Probe noch einen Stehkaffee vor dem Stadttheater, da steuerte genau besagter Wowa mit seinem streng gescheitelten Haarschopf, blond wie der ukrainische Weizen, auf Clown Marco zu und sagte: "Heute möchte ich auch zaubern lernen!" Marco hatte die Clown-Nase noch nicht aufgesetzt, die Clown-Freude über die Begeisterung des Jungen stand ihm aber ins Gesicht geschrieben. Und es war gewiss eine optische Täuschung, doch mir schien, als hätte ich den auf der Parkbank sitzenden Mykola Jakowtschenko zwinkern gesehen

Wieder im Marschrutka-Minibus am Rückweg nach Kiew. Wieder viele Schlaglöcher, viel Horizont und wenig Platz neben den in die Hauptstadt pendelnden Provinz-Ukrainern. Da kam mir wieder die Frage in den Sinn: Gäbe es Kriege, wenn alle Menschen Clowns wären? Nein. Davon bin ich nach den Tagen mit Marco, Mario, Jan und Polina in Pryluky überzeugt. Denn Clowns nehmen sich und andere nicht so ernst, dass Kriege ausbrechen; und Clowns machen sich so gern über alles lustig, dass Kriege sehr schnell wieder aus wären. Zu wenig ernst und zu lustig zum Kriegsführen - schade, dass nicht alle Menschen zumindest ein bisschen Clowns sein wollen.

NACHDENKEN ÜBER DEN KRIEG

Thukydides

Der "Peloponnesische Krieg" des athenischen Strategen beschreibt nicht nur Schlachtdetails, er stellt auch den menschlichen Charakter dar und die Mechanismen von Macht und Machtpolitik.

Plato

Der Philosophenkönig lebte in einer Zeit ständiger Kriege. Seine Schlüsse daraus sind düster. Nur für die Toten sei der Krieg zu Ende, meint er. Entwirft im "Staat" die Kriegerkaste der "Wächter".

Carl von Clausewitz

Sein Hauptwerk "Vom Kriege" behandelt Strategie, Taktik und Philosophie. Es wird nicht nur in Militärakademien, sondern auch bei Marketing-und Managementkursen als Lehrmaterial verwendet.

Christopher Clark

Der Professor für Neuere Europäische Geschichte in Cambridge beschreibt in "Die Schlafwandler" eindrucksvoll, wie Misstrauen, Überheblichkeit und Fehlkalkül 1914 zum Weltkrieg führten.

Die Schwächsten leiden am meisten unter den Folgen des Krieges. Unsere Aufgabe ist es, vor allem auf sie zu schauen. (Liliia Bilous, RK)

Der Leitgedanke der Clown-Einsätze ist, dass Humor in Kriegsgräueln, Flüchtlingselend, körperlichen und seelischen Verwundungen neue Lebensfreude zu Menschen in Not bringen kann.

Schule in Trümmern Ein Helfer zeigt die Zerstörungen des Krieges in einer Schule im Osten der Ukraine. Hunderttausende mussten fliehen. Oben: Die Clowns im Einsatz.

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