Das Ethos der FAIRNESS
Wie eine 175 Gramm schwere Plastikscheibe die Straflogik auf den Kopf stellt. Was die Gesellschaft sich davon abschauen kann.
Wie eine 175 Gramm schwere Plastikscheibe die Straflogik auf den Kopf stellt. Was die Gesellschaft sich davon abschauen kann.
Ob ihr Fuß noch im Feld war, als sie die Frisbeescheibe fing, konnte Bettina Schnedl nicht genau sagen. Sie war mitten im Sprung, im Finale eines internationalen Turniers, ein schnelles Spiel, es ging um einen wichtigen Punkt. Doch ihre Gegenspielerin zeigte ein "Foul" an. Der Punkt zählte nicht, der Spielzug wurde wiederholt. Bettina Schnedl ist Ultimate Frisbee-Spielerin: ein Mannschaftssport, bei dem es darum geht, eine 175 Gramm leichte Plastikscheibe in der gegnerischen Zone zu fangen. "Ultimate", so die Kurzform, ist ein bisschen wie Fußball, nur dass der Ball eine Frisbeescheibe ist. Und: Es gibt keine Schiedsrichter.
Dabei hat Ultimate klare Regeln. Gleich die erste beschreibt den Kern: Den "Spirit of the Game". Ultimate beruht auf dem "Geist des Spieles", der "jedem einzelnen Spieler die Verantwortung für faires Spielen überträgt", heißt es im offiziellen Regelwerk. Spieler verpflichten sich dazu, fair, objektiv und ehrlich zu sein. Eine Regelübertretung kann von jedem Spieler angezeigt werden, es liegt an den Teams am Platz, die Situation zu klären. So schnell wie möglich, höflich und respektvoll -so sehen es die Regeln vor. Ist man sich nicht einig, wird dem Einspruch stattgegeben. "Dann wird die Spielsituation vor dem Verstoß wieder hergestellt", erklärt Schnedl, "als ob wir die Zeit zurückdrehen."
Ultimate Frisbee: Ein Sport ohne Strafe
Bevor sie Ultimate vor sechs Jahren für sich entdeckte, spielte die 28jährige Niederösterreicherin jahrelang Basketball - ein aggressiver, kontaktintensiver Sport mit taktischen Fouls. "Am Anfang kam mir die Ultimate-Szene vor wie ein Hippie-Verein", lacht sie. Das hat sich geändert. Drei Mal wurde sie mit ihrem Team "Box" schon österreichische Staatsmeisterin, sie spielt im österreichischen Nationalteam. Der "Spirit of the Game" - respektvoll, fair und verantwortungsbewusst - hat Schnedl gepackt.
In Österreich endet der straffreie Raum aber mit dem Frisbee-Feld. Jedes Kind weiß: Wer sich nicht an Regeln hält, wird bestraft. Das Strafgesetzbuch gibt vor, wie. Geldstrafe oder Freiheitsstrafe, bedingt oder unbedingt. Schuldspruch, Gefängnis, Ende.
Nicole Lieger ist Lektorin an der Universität Wien. Dass Strafe in vielen Strafrechtslehrbüchern als "das absichtliche Zufügen eines Übels" bezeichnet wird, schockiert sie: "Ist das bewusste Wehtun wirklich unumgänglich? Muss Strafe sein?", fragt sie. Die von ihr mitbegründete Initiative "rejust" hat es sich zum Ziel gesetzt, Alternativen zur Straflogik aufzeigen.
Das Regelwerk von Ultimate Frisbee ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Bei Naturvölkern von Nordamerika bis in den pazifischen Raum finden sich bis heute Umgangsweisen, die auf Versöhnung, Verantwortung und Gemeinschaft setzen statt auf individuelle Bestrafung. Auch in Europa hätte es lange Zeit ein Mediationsrecht gegeben, führt Lieger aus: Wenn ein Bauer einem anderen eine Kuh stahl, musste er den Schaden wiedergutmachen. Stahl er aber dem König ein Reh, wurde er gehängt. "Dahinter stecken Herrschaftslogiken", sagt Lieger.
Auf Wiedergutmachung setzt auch das moderne Konzept der "restorative justice" ("heilungsorientierte Justiz"). Sie fragt nicht: Wer ist Schuld? Sondern: Wer ist verletzt? Was braucht es jetzt? Wer kann was tun? Kann man erreichen, dass das zukünftig nicht mehr passiert? Die Täter müssen sich mit ihrer Tat auseinandersetzen, sich mit dem Schmerz, den sie zugefügt haben, konfrontieren. Das Verbrechen zieht keine Strafe nach sich, sondern eine Verpflichtung. Beim "außergerichtlichen Tatausgleich" wird dieser Ansatz auch in Österreich praktiziert. Unter der Mediation von geschulten Sozialarbeitern des Vereins "Neustart" werden Konflikte inhaltlich aufgearbeitet, der Schaden möglichst wieder gut gemacht.
Seit drei Monaten gehören außerdem die "Sozialnetzkonferenzen" für straffällige Jugendliche zum Regelbetrieb der Justiz. Gemeinsam mit dem persönlichen Umfeld, also Familien, Freunden oder Bekannten wird nach Lösungen gesucht und ein Plan entwickelt. Oft funktioniert das sehr gut - das Zutrauen, dass die Probleme mit Hilfe des Umfeldes gelöst werden, wirkt stärkend.
"Spirit of the Game": Verantwortung tragen
Die Autorität des eigenen Umfeldes ist außerdem oft wirkungsvoller, als die eines fremden Richters. Das trifft auch bei Ultimate zu. Denn ganz ohne Justiz kommt auch dieser Sport nicht aus. Die Rechtssprecherin ist bei Ultimate die Szene.
Nach jedem Spiel wird nämlich auch der "Spirit" der Mannschaft vom gegnerischen Team bewertet. Eine gute Spirit-Wertung bringt mehr Einladungen zu Turnieren. Wer unfair spielt, wird seltener eingeladen. Ehrliche Reue erweist sich auch am Sportplatz als wirkungsvoller als rote Karten. Von einem Spiel vor drei Jahren etwa spricht die Szene heute noch: Es war die Ultimate-Weltmeisterschaft, Kanada spielte gegen Japan, beide waren starke Gegner, am Ende gewann Japan 14:13. In Erinnerung bleiben aber die aggressive Spielweise der Kanadier, die falschen Fouls, die Rempeleien, Verletzungen. "Ein furchtbar hässliches Spiel", schimpften Fans. Kurz darauf entschuldigte sich das kanadische Team auf seinem Blog: "Wir haben den Spirit of the Game verletzt", schrieb die Mannschaft. Ihn immer einzuhalten, ist die wohl schwierigste Aufgabe im Sport, argumentierte das Team. Denn natürlich gäbe es immer wieder subjektive Regelübertretungen, ob absichtlich oder unabsichtlich. Noch dazu habe keiner der Spieler jemals den kompletten Überblick, was genau passiert ist: Immer fehlt ein kleiner Teil, und der wird von Menschen mit Projektionen gefüllt. Die Erwartungen an die anderen bedingen dann die Reaktion.
"Konflikte sind unvermeidbar", schrieben die Kanadier geläutert: "Sogar falsch angezeigte Fouls sind unvermeidbar. Das müssen wir akzeptieren und unseren Ärger bei Seite lassen. Auch wenn wir uns sicher sind, dass wir im Recht sind, müssen wir uns sagen, dass gute Menschen manchmal schlechte Entscheidungen treffen. Und weitermachen. Nur so können wir eine Eskalation vermeiden."
Ähnlich gelassen reagierte auch Bettina Schnedl, als sie sich nach dem strittigen Spiel eine Videoaufnahme ansah. In der Zeitlupe sah es so aus, als wäre der Fuß am Boden gewesen, das Foul also zu Unrecht angezeigt worden. Ärgerlich, aber: "So ist das eben. Ich würde mich mehr ärgern, wenn es ein deutliches Out gewesen wäre, und mir der Punkt gegeben worden wäre."
Verbrechen verpflichtet
Das österreichische Strafrecht ist 40 Jahre alt. Heuer soll es umfassend reformiert werden. Wie muss Strafe im 21. Jahrhundert funktionieren? Eine Auseinandersetzung mit neuen Formen der Täterverantwortung, der Pflicht von Staaten gegenüber ihren Häftlingen und der Frage, ob schon die Wortwahl einen Unterschied machen kann.
Redaktion: Veronika Dolna