In Wiens Kampfsportvereinen rüsten sich längst nicht mehr nur jugendliche Migranten sondern auch heimische Skinheads hoch. Die Thai-Box-Szene wehrt sich gegen Schuldzuweisungen und Vorurteile. Dennoch: Einer ihrer Schützlinge hat den grausigsten Mord der jüngeren Kriminalgeschichte begangen – mit Händen und Füssen.
Genau 32 Zähne hat das vollständige Gebiss des erwachsenen Menschen. 32 Zähne können aber auch binnen zwei Minuten aus dem Mund entweichen, ganz so wie in derselben Zeit der Mund eines Menschen aus seinem Gesicht zu verschwinden vermag. „Der gesamte Gesichtsschädel des Opfers war zu Brei zermalmt. Alles hat sich bewegt. Der Mann ist an Blut, Knochenbruchfragmenten und Zähnen erstickt, die ihm durch die enormen Misshandlungen in die Tiefe hineingeschlagen worden waren.“, sagen die Gutachter vor Gericht. An eine Beatmung war nicht mehr zu denken. Keiner hätte den Mund gefunden. „Übertötung“, nennt ein Zeuge das Geschehen.
Am 24. März 2009 um halb fünf Uhr früh hatte der 53-jährige Sozialhilfeempfänger Albrecht M., ein gebildeter feinsinniger Mann, der aus seinem Stammbeisl, der Klassik-beschallten Innenstadtbar „Santo Spirito“ gekommen war, den Weg des 22 Jahre alten Arbeitslosen Jürgen K. gekreuzt, der zuvor in einem In-Lokal gemeinsam mit einigen Kumpeln sechs Flaschen Wodka geleert hatte. Nach einem kurzen Wortwechsel war Albrecht mit geplatztem Schädel auf dem Pflaster liegengeblieben. Der Täter hatte zwei Minuten lang mit voller Wucht auf seinen Kopf eingetreten.
In die Kriminalchronik könnte sein grausiges Ende als tödliche Folge einer „Schlägerei unter Arbeitslosen“ eingehen. Doch dahinter steckt mehr.
Vergessene Jugendliche erleben die Gewalt
Die alltägliche Wahrheit gewisser Teile Wiens ist selten schön und weich, sondern derb und hart wie Biberzahn. Das gilt auch im 22.Wiener Bezirk, der „Donaustadt“, dort wo die Stadt ohne geografisches Korsett nach Südosten ausapern kann. Kein Waldgürtel, keine Vorgebirge hindern das Erweiterungsgebiet an seiner rasanten Ausdehnung, und schon bald wird der größte und in seiner Vielgestalt zugleich gesichtsloseste Bezirk jenseits der Donau den traditionellen Arbeiterhieb Favoriten überholt haben, und der einwohnerstärkste Bezirk Wiens sein.
Demographischer Schwerpunkt Nummer eins: Inländer. Schwerpunkt Nummer zwei: jung an Jahren, häufig Jungfamilien.
„Die Jugendlichen dort sind ja in Wahrheit alle vergessen worden.“, sagt Benedikt G. „Da rennst als kleines Kind bereits mit den Alten tarockieren, bist auch bei Wirtshausschlägereien dabei. Die Gewalttätigkeit hat sich schon immer potenziert.“
Benedikt G., 24 Jahre alt, kennt Jürgen K., den Burschen aus der Donaustadt, seit acht Jahren – vom Fußballplatz. Wie Jürgen ist auch Benedikt eingefleischter Fan der Wiener Austria.
Anfangs durfte Jürgen noch mit ins Stadion. Das wurde ihm bald verboten, nach mehreren Verurteilungen wegen Körperverletzung, und einer Zeit im Gefängnis. Seine erste Vorstrafe kassiert Jürgen K. nach einer Attacke auf einen Fahrkartenkontrollor in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Am Ende waren es neun Vorstrafen.
Streit für die Ehre des Klubs
Jürgens Hauptbühne war das Gemeindebaughetto Kaisermühlen. Da wurde gerauft, gesoffen und gespielt, oft genug und mit großer Energie im Namen der Fußballreligion, die in diesem Fall den Namen „Austria“ trägt. Wollte man früher deren notorisch gewalttätige Anhänger unter Beobachtung halten, mussten Polizei und Streetworker die einschlägigen Fanclubs abklappern. Das sei längst nicht mehr so, sagt Benedikt G. „Die ‚Spaßorientierten‘ unter den Fans sind unstrukturierte Haufen. Und die verabreden sich untereinander per Anruf oder SMS mit ebenso lose gefügten gegnerischen Banden zu Schlägereien. Wer dazu kommt, kommt eben. Und dann hauen sie sich fest in die Goschen! Fernab der Fußballstadien natürlich, denn die meisten von denen haben immer gerade eine Bewährungsstrafe laufen, und ziemliche Angst vor der Polizei. Die in dieser Liga haben nur Spaß daran, sich gegenseitig zu prügeln, also mit jemandem, der zu kämpfen versteht. Unbeteiligte werden höchstens einmal am Rande eines Spiels von irgendeinem Familienvater verdroschen, der zu tief ins Glas geschaut hat.“
Im Kampf immer vorn dabei: Jürgen K., 1,90 Meter groß, zuletzt 106 Kilo Lebendgewicht. Ein Riese mit Hang zu zweifelhafter Ritterlichkeit. Einmal, 2004, traktiert er die halbe Gästeschar eines Kaffeehauses mit einem Baseballschläger – seine Freundin sei schief angeschaut worden. „Für solche Amokläufe hat er aber Alkohol gebraucht“, bemerkt Benedikt G. „Ein starker Charakter war er nie ...“
Freundin und Fußballklub sind es nicht allein, für deren Ehre Jürgen K. streitet. Auf dem Rücken trägt er den eintätowierten Schriftzug „Made in Vienna“, seine Musik wird von Bands wie „Blood and Honour“ im Namen von Blut und Ehre gemacht. „Ein prägendes Erlebnis für mich war, als einmal beim Match einer in unserem Sektor auf der Tribüne mit einer Hakenkreuzfahne hin und her gerannt ist, und sich die Polizei nicht hineingetraut hat.“
Nach allen Regeln des Kampfsports ausgebildete Schläger gebe es bei der Austria allerdings wenige. „Vielleicht 50 – insgesamt“, rechnet Benedikt K. vor. Aber auch die trampeln nicht zwei Minuten lang auf jemandes Kopf herum, bis er stirbt.
Georg Kaipl sieht nicht wie jemand aus, der Menschen zu Mördern hochrüsten würde. Ein gemütlicher Mann in den 30ern, der ruhig und ausgeglichen wirkt. Und trotzdem hat der Obmann des Kampfsportzentrums Donaustadt Jürgen K. im Thai-Boxen trainiert – wenn auch nur ein Monat lang.
Diese fernöstliche Art des Kickboxens zählt zu den härtesten bekannten Kampfsportarten. Der Boden vibriert regelrecht, wenn sich Kaipls Schützlinge – vom Knäblein bis zum gestandenen Muskelmann – nebenan im Trainingsraum gegenseitig mit Schlägen und gehörigem Beineinsatz eindecken. Da schmettert’s Gebein! Wie viele solche Schläge und Tritte das menschliche Hirn verkraften kann ohne ein paar graue Zellen zu verlieren, mögen Mediziner beurteilen, doch intellektuelle Kompetenzen sind ohnehin nicht das Thema dieses Lokalaugenscheins im „Bulls Gym“, dem traditionsreichen Donaustädter Sport- und Kampftempel gleich neben der Donau, wo die Gassen so idyllische Namen wie „Anglerweg“ tragen. Hier trainieren allerdings keine Höhlenmenschen sondern Kinder, Frauen, Polizisten, betont man bei „Bulls“. Es gehe um Selbsterfahrung, Selbstverteidigung, Wettkampf.
Angeblich macht Boxen nicht aggressiv
Für Kaipl steht fest, dass seine Kampfkunst, die praktische Seite des edlen „Muay Thai“, nicht aggressiv macht – eher im Gegenteil. „Sie können sich nicht vorstellen“, sagt er, „wie befreit manche von denen nach dem Training da herausgehen! Der Kampfsport macht den Leuten bewusst, welches Potential in ihnen steckt und hat einen Selbstschutzeffekt.“
Dieser pädagogische Auftrag wurde bei Jürgen K. – vorsichtig ausgedrückt – nicht erfüllt. Warum aber richtet man einen primitiven Neonazi mit mehreren Vorstrafen wegen Körperverletzung noch zusätzlich zum Kämpfer in Menschenverkleidung ab? „Wer kann denn schon in einen Menschen hineinschauen? Bei uns war er ein netter Kerl.“, sagt „Bulls“-Betreiber Norbert Plank uns zuckt die Achseln. Besonders aggressiv schien Jürgen K. nicht zu sein. „Er war auch zu selten da!“, bemerkt Kaipl und seufzt tief.Denn für dieses eine Monat habe man umso bitterer gebüßt. Das Kampfkunstzentrum Donaustadt hat nach dem Mord die öffentlichen Förderungen verloren.
Das intellektuelle Erlebnis am Kampfsport ist die Frage: „Was passiert, wenn du einmal in deinem Leben ohne Schutz dastehst, wenn dir alles abhanden kommt, was du kennst?’“ Der beste Kampf sei der, der nie stattfindet, meint Sven H, knapp über 30 Jahre alt und von Beruf Security-Kraft. Thai-Boxen hat er ganz woanders, jedenfalls nicht in der Donaustadt trainiert.
Jürgen K.? Diesen Übertöter kann er nicht als seinesgleichen anerkennen. Eher noch das Opfer Albrecht M., den kleinen klapprigen Mann. Und Sven trinkt einen letzten Schluck auf Albrecht, mit dem er so oft im gemeinsamen Stammlokal, dem „Santo Spirito“, gesessen ist und klassischer Musik gelauscht hat …
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