Ein wachsender Anteil älterer Menschen muss sich an eine zunehmend beschleunigte Gesellschaft anpassen: Das birgt sozialen Sprengstoff - aber auch Potenzial für innovative Bildungskonzepte für alle Lebensphasen.
Es war einmal eine Zeit, da galt Altern als unproduktive Phase im Lebensverlauf. Nach der Phase der Erwerbsarbeit glitten die Älteren in den Ruhestand. Wie die Kinder, die erst langsam in die Gesellschaft hineinwachsen, wurden sie am anderen Ende des Altersspektrums zu einer Randgruppe der "eigentlichen“ Gesellschaft. Im Idealfall wurden einige wenige von ihnen weise.
Heute hingegen hat das Bild des Alters eine Wandlung erfahren: "Das Idealbild älterer Menschen ist nicht mehr das des ‚weisen Alten‘“, so der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in seiner Zeitdiagnose der Beschleunigung, "sondern das des immer noch flexiblen, wandlungsfähigen Nicht-wirklich-Alten.“ Die Generation der reisefreudigen und erlebnishungrigen Alt-68er, die demnächst in den Ruhestand übertreten wird, könnte diesem Bild der neuen Alten ganz gut entsprechen.
Digitale Beschleunigung
Vor dem Hintergrund einer zunehmend alternden "Gesellschaft des Wissens“ wird eine Kultur des aktiven Alterns und lebenslangen Lernens groß geschrieben. So war das Jahr 2012 in der EU zum "Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ ausgerufen worden, um die Grundlagen einer "Gesellschaft für alle Lebensalter“ zu stärken. "In einer Gesellschaft, die mehr denn je auf Bildung basiert, sind die Individuen verstärkt gefordert, in verschiedenen Lebensphasen Anpassungsleistungen und Umorientierung vorzunehmen“, erläuterte Ada Pellert, Präsidentin der Deutschen Universität für Weiterbildung in Berlin, bei einem Vortrag im Rahmen der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Altersfragen (ÖPIA) in Wien. Während man früher davon ausgehen konnte, dass in jungen Jahren erworbenes Wissen ausreichen würde, um im Leben zurecht zu kommen, ist diese Gewissheit mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter und dem dadurch ausgelösten Beschleunigungsschub ins Wanken geraten. Heute ist es tatsächlich ratsam, sich auf immer kurzfristigere Veränderungen einzustellen - und an diesem Wandel aktiv zu partizipieren. Die Halbwertszeit des Wissens schwindet; die Zukunft ist ungewisser, risikoreicher, weniger planbar geworden.
"Durch lebenslanges Lernen sollen die Beschäftigungsfähigkeit und aktive Teilhabe älterer Menschen gestärkt werden, um ein Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern“, so Pellert. Allerdings sei auch Bildung in der Gesellschaft höchst ungleichmäßig im Sinne des Matthäus-Effekts verteilt: Denn wer da hat, dem wird gegeben. Die Breitenförderung des lebenslangen Lernens gilt daher als eine der größten bildungspolitischen Herausforderungen.
Vielfältige Lernbiographien
Die Leitlinien des neuen Lernkonzepts implizieren einen weit reichenden Perspektivenwechsel auf das Bildungssystem: Eine sequenzielle Vorstellung von Bildung erscheint heute kaum mehr zeitgemäß; vielmehr werden immer neue Mischverhältnisse zwischen Berufs-, Bildungs- und Privatleben zur Herausforderung. Nicht mehr lexikalisches Wissen, sondern Kompetenzen und Handlungsfähigkeit stehen im Vordergrund. Niedrigschwellige Bildungszugänge, die Verschränkung von Lernorten und die Entwicklung neuer Lernmethoden sind wünschenswert, um "Lernbiographien“ in großer Vielfalt zu ermöglichen.
Aus der Perspektive des lebenslangen Lernens erscheint die Phase der Ausbildung in Kindheit und Jugend somit gleichsam als Vorbereitung auf einen Marathonlauf, wie Pellert erläuterte: "Hier sollte Bildungsmotivation als fruchtbarer Samen für spätere Bildungsprozesse eingepflanzt werden.“
Also Lernen bis zum Umfallen? Ein Marathonlauf erfordert langfristiges Engagement - aber es macht einen Unterschied, ob sich der Marathonläufer nur quält oder mit Freude unterwegs ist. Und natürlich auch, wie leichtfüßig er läuft. Wie durch Erkenntnisse der Hirnforschung bestätigt wurde, sind Freude und Begeisterung der beste Nährboden für die Nachhaltigkeit des Lernens. "Gutes Lernen braucht emotionale Berührung und läuft stets ganzheitlich via Kopf, Hand und Herz“, betonte Pellert. Auch der Altersforscher Franz Kolland von der Universität Wien plädierte im Rahmen der ÖPIA-Veranstaltung dafür, den Bildungsbegriff um die wichtige Ebene der Emotionen zu erweitern.
Das politische Leitbild vom aktiven Altern ist vor allem durch eine demographisch-ökonomische Sichtweise motiviert. Der Erfahrungsreichtum und die Potenziale älterer Menschen sollen für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden. Die Freiheit von Karriereinteressen, charakteristisch für den Großteil der Menschen im Ruhestand, wird hier nicht als Defizit, sondern als Chance gesehen. "Die Gesellschaft benötigt das Vorleben einer anderen Art der Gelassenheit“, sagte Pellert.
Zugleich geht das aktuelle Leitbild des aktiven Alterns mit jenen individuellen Herausforderungen einher, die bezeichnend für unsere Gesellschaft der permanenten Nutzbarmachung sind: Flexibilität und Veränderungsbereitschaft, Selbststeuerung und Eigenverantwortung.
Achtsames Tun und Lassen
Einen kritischen Blick auf den gesellschaftlichen Beschleunigungsdruck, der auch vor dem Alter nicht halt macht, hatte die deutsche Soziologin Helga Zeiher bei einem vorangegangenen ÖPIA-Vortrag in Wien präsentiert: "Während das Aufwachsen der Kinder heute in vieler Hinsicht beschleunigt wird - sie sollen immer früher und schneller lernen -, wird versucht, den Verfall der Alten zu verlangsamen, und zwar indem ihr Leben länger schnell bleiben soll.“
Zeiher wandte sich dabei keineswegs gegen die wünschenswerte Partizipation und verlängerte Aktivität älterer Menschen, plädierte aber für einen achtsamen Umgang mit Zeit im Alter. "Wenn antizipierte Zukunft dominiert, kann sie gegenwärtiges Leben ersticken. Das zeigt sich in der Kindheit, wenn der Leistungsdruck sehr groß wird. Und das zeigt sich auch im Alter, wenn der antizipierte Verfall entweder den verbleibenden Lebensrest unter Zeitdruck setzt oder den Menschen in dessen Komplement, die Depression, zieht.“ Ein Zeitdenken jenseits der Fixierung auf die Zukunft hingegen habe die Gegenwart zum Zentrum und gebe somit den "Eigenzeiten des Tuns und Lassens“ mehr Wert und Gewicht.
Dass Bildung immer auch mit Muße und vor allem Sinnfragen verbunden ist, sollte sich in den zunehmenden Lernerfahrungen mit älteren Menschen besonders deutlich zeigen.
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