In den Niederlanden wurden dieses Schuljahr die ersten iPad-Schulen eröffnet. Statt des Heftes verwenden die Schüler das iPad. Ein Besuch bei umstrittenen Pionieren.
Die Kinderrevolution beginnt im pittoresken Städtchen Sneek, das berühmt ist fürs Segeln und für Schlittschuhe, aber nicht für bahnbrechende Entwicklungen. Nun aber laufen Mädchen und Jungen zwischen acht und zwölf Jahren durch ein nagelneues Schulgebäude, in den Händen bunte Plastikhüllen mit ebenso neuen iPads. Eigentlich sind all die Journalisten gekommen, um über die Eröffnung der ersten iPad-Schule zu berichten. Die Schüler aber drehen die Rollen um, filmen die Reporter, stellen ihnen Fragen.
Internationaler Vorrreiter?
Die zehnjährige Ilse will wissen, was die Besucher von ihrer neuen Schule halten, wo das Lernen hauptsächlich mit Tablets geschieht. Im Gruppenverband zwar, aber neben gemeinsamen Projek-ten liegt der Schwerpunkt auf derEinzelarbeit, gemäß dem individuellen Tempo der Kinder. Die Inhalte werden alle sechs Wochen gemeinsam mit den Lehrern und Eltern festgelegt. "Wird sich das auch in anderen Ländern durchsetzen?“ Eine zentrale Frage, die Ilse da stellt: Wenn der neue Ansatz in den Niederlanden gut funktioniert, dürfte das auch international Konsequenzen haben. Diese Schule ist eine der ersten sieben Steve-Jobs-Schulen, benannt nach dem verstorbenen Apple-Chef. Die Kinder sind im Alter zwischen vier und zwölf Jahren. Geld von Apple bezieht man nicht, wohl aber von einem Unterstützer-Kreis, in den Unternehmen einzah-len, die das neue Schulkonzept begrüßen. Die Schulen sind öffentlich und kosten damit kein Schulgeld.
Der Mann, der sich das alles ausgedacht hat, steht derweil auf dem Schulhof, der ein bisschen wie ein Abenteuerspielplatz aussieht. Maurice de Hond, 66, in den Niederlanden bekannt als Meinungsforscher und Technikfreak. Während die Tablet-Pioniere durch Tunnel kriechen und künstliche Hügel hinabrasen, beschwert er sich über die Schule, wie wir sie kennen. "Sie negiert die Chancen der digitalen Welt und bereitet die Kinder nicht auf die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit vor.“
Ein Beispiel, wie sein Konzept, das sich "Unterricht für eine Neue Zeit“ nennt, das verändern will? Wenn an Gymnasien Latein oder Griechisch Pflichtfach sind, "weil man das 1850 an der Universität brauchte“, sollen die Schüler hier Zehn-Finger-Tippen und HTML lernen. Denn viele Kinder leben in einer digitalen Umgebung, benutzen selbstverständlich Apparate ihrer Eltern zum Lernen und Spielen, während die Schule "in der analogen Welt verhaftet“ sei.
De Honds These: Die Generation, die von frühester Kindheit an mit dem iPad aufwächst, wird diese Kluft noch verstärken. "Kleuterrevolutie“ nennt er das, die Kleinkindrevolution. Um mit dieser Entwicklung mitzuhalten, will man das Tablet, oft gerühmt als ideal für kindgerechtes, intuitives Lernen, als Haupt-Lehrmittel einsetzen. In der hellen Aula in Sneek betritt Janet Visser das Podium, die Direktorin. "Mehr Maßarbeit“, sagt sie, wünsche sie sich schon lange, und meint: "individuelle Förderung“.
Vom neuen Konzept ist die Direktorin fest überzeugt, gerade darum will sie ein paar Gerüchte ins Reich der Fabeln verweisen. "Die Kinder schauen hier nicht den ganzen Tag youtube. Und es stimmt auch nicht, dass alle herum laufen, wie sie gerade aufgelegt sind. Dem ganzen liegt ein Plan zu Grunde“, erzählt die Mittvierzigerin. Mehr Missverständnisse gilt es zu entkräften: die Anfangszeiten sind gleitend, was nicht bedeutet, dass jeder kommt, wann er will. Und ja, es gibt durchaus Bücher in dieser Schule. Nur werden sie kaum als Lehrmittel gebraucht. Mitten im Gang steht wie zum Beweis ein voller Bücherschrank.
Offene Türen rennt die Kleinkindrevolution längst nicht überall ein: Kritiker halten den Tabletpädagogen vor, ihre Schule sei nicht kindgerecht, gefährlich gar, da sie Computersucht und Bewegungsmangel fördere. Soziale Fähigkeiten würden nicht entwickelt, der ständige Blick auf den Bildschirm bewirke Haltungsschäden.
Skepsis und harsche Kritik
Nicht alle gehen so weit wie der deutsche Hirnforscher Manfred Spitzer, Autor des populärwissenschaftlichen Bestsellers "Digitale Demenz“. Dass Vierjährige am iPad lernen sollen, ist für ihn schlicht "Kindesmisshandlung“.
Nuancierte Untersuchungen gibt es bislang noch nicht, wissenschaftliche Institutionen in den Niederlanden haben diese aber angekündigt. Die Schulaufsichtsbehörde, die die Pionierschulen anerkannt hat, will ihnen besonderes Augenmerk widmen.
In Sneek ist jetzt Showtime. Auf einem ausladenden Flachbildschirm stellt Maurice de Hond die technischen Säulen vor, auf denen die iPad-Schulen errichtet sind: eine persönliche Agenda als Stundenplan für jedes Kind. Eine Übersicht für alle Projekte, an denen sich Lehrkräfte und Schüler beteiligen, wovon es für jedes eine gesonderte Chatbox zum schnellen Austausch gibt. Ein Programm, mit dem Lehrer und Eltern den Lernprozess der Kinder verfolgen können. Und schließlich den "virtuellen Schulhof“, auf dem die Kinder sich immer einloggen können, um Freunde zu treffen.
Natürlich eröffnet man eine solche iPad-Schule nicht, indem man ein Band durchschneidet. Vielmehr muss nun, da Schüler und Lehrer körperlich anwesend sind, auch die virtuelle Dimension eingeweiht werden. Also betreten einige Kinder das Podium. "Fünf, vier, drei, zwei, eins“, zählt Maurice de Hond herunter. Bei "Null“ klicken sie auf ihre iPads, und ihre selbst gestalteten Avatare, jeweils mit einem Foto als Gesicht, erscheinen auf dem Großbildschirm.Ein wichtiger Moment für die Journalisten - und natürlich auch für die Kinderreporter, die zwischen den Stativen und Kameras herumlaufen und filmend ihre Tablets in die Luft halten.
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