Die Untiefen der politischen Seele
Mancher Wahlkampfmanager steht nach der Wahl als Buhmann da. Warum haben die vorher so hochgelobten "spin doctors" nicht mehr zustande gebracht?
Mancher Wahlkampfmanager steht nach der Wahl als Buhmann da. Warum haben die vorher so hochgelobten "spin doctors" nicht mehr zustande gebracht?
Der Wähler und die Wählerin haben gesprochen, und sofort hat das Rätseln darüber begonnen, was sie gewollt haben. Der Wille des Wählers existiert aber nicht. Es gibt viele Wähler, und sie haben ganz verschiedene Willen. Sie reagieren verschieden, sie verfolgen unterschiedliche Strategien, sie äußern sich aus dem Bauch oder aus dem Kopf. Das Ergebnis einer Wahl, die irgendwann amtierende Regierung, ist in vielen Fällen das unbeabsichtigte Ergebnis gebündelter Willensäußerungen, die vielleicht ganz woanders hin gezielt haben.
Zu den beliebtesten Nachwahlbeschäftigungen gehört auch das Rätseln darüber, welche Motive die Wähler und Wählerinnen wohl gehabt haben mögen, um so und nicht anders zu entscheiden. Je überraschender das Wahlergebnis, desto heftiger die Deutungsbemühungen, und wenn es um einen "Erdrutsch" geht, um die Beendigung der "Zweiten Republik" gar, räsoniert man eifrig über die Strategien des Wahlkampfes, über die Vorzüge der "Verführer" und die Nachteile der "Amtsinhaber", über den Wandel der Sozialstruktur und die Unsicherheit der Zeit. Vor allem auch: Sind die hochgelobten "spin doctors" Fiktion? Ist Österreich nicht "amerikanisierbar"? Warum haben die "spinnenden Doktoren" nicht mehr zustande gebracht?
Das Authentizitätsdefizit Auch hierzulande installiert man wahlkämpfende Zentralen, die nichts mehr dem Zufall überlassen. Man professionalisiert sich, hängt an den Ergebnissen der Meinungsforschung. Der Computer spuckt unablässig aus, was Sache ist, was "in" ist, was welcher Subwählergruppe beigebracht werden "muß". Jene Intellektuellen, die als Wahlberater tätig sind, sitzen ihrer eigenen Verzweiflung auf. Längst haben sie erkannt, daß ihre eigenen Einschätzungen nicht jene der Mehrheit sind, längst haben sie ihre Kritik inhaltsloser Politik suspendiert, wo sie doch erleben, daß gerade die dümmsten Sager zuweilen ihre Wirkung tun. Ihre intellektuelle Professionalisierung besteht in der radikalen Ablehnung jeder professionellen Intellektualität. Sie produzieren Inhaltslosigkeit, indem sie "ihren" Kandidaten Stichworte verordnen, bis dieser selbst nicht mehr weiß, was er eigentlich sagen will, oder am Ende gar schon selbst glaubt, was er verkündet. Und dennoch ist der Bruch in seiner Authentizität zu spüren. Gespielte Authentizität ist wie alkoholfreies Bier. Es werden die Reste der "wirklichen Person" weggeräumt. Der Kandidat wandelt durch die Lande wie eine Marionette, wie ein Schlafwandler, wie eine immerlächelnde Aufziehpuppe.
Auf Dauer spüren die Menschen den Bruch, die Fassade, das Eingelernte, die Weichwäsche, die Kantenlosigkeit. Unauthentische Politiker werden nicht gewählt. Zumindest müßten sie das Authentische besser spielen.
Das Führungsdefizit Österreich ist kein liberales Land. Die Wählerinnen und Wähler - vor allem die älteren - wollen Obrigkeit. Sie wollen Führung, starke Führungspersönlichkeiten. Sie wollen keinen Kanzler, der ein "Haberer" ist, ein Mann wie Du und Ich, ein Stammtischgenosse (und es stimmt, daß er ein solcher ist). Sie mögen sagen, daß sie das wollen, und die Wahlberater gehen ihnen auf den Leim; aber sie wollen es nicht wirklich. Sie wollen einen Starken da oben; schwach sind sie selber. Es gilt für den Österreicher das Prinzip, daß er einen wie sich selber nie zum Kanzler machen würde.
Der andere Kandidat wieder ist der gealterte Klassenbeste, und die Leute gewinnen den Eindruck, daß er immer alles besser weiß (was üblicherweise auch stimmt). Aber Leute, die alles besser wissen, wählt man nicht. Ein "Führer" ist nicht einer, der besser argumentieren kann; ein "Führer" sagt, wo es lang geht, gerade weil er keine Gründe dafür anzugeben vermag, einfach aus dem Charisma seiner Person. Die besten Wahlkampfmanager können aber aus den Kandidaten, die sie zur Verfügung haben, nicht wirklich andere Kandidaten machen. Am verfügbaren "Menschenmaterial" enden ihre Manipulationsmöglichkeiten.
Das Faszinierende am dritten Kandidaten war, daß er zwei Vorzüge vereinte: Raunzen von unten und Führung von oben. Er ist "goschert", und das imponiert Wählern, die es selber auch gern wären, wenn sie sich nur trauen täten. Er geht voran im Aufbegehren. Er ist der "erste Raunzer" im Staate, und das verwurzelt ihn im Volke. Er macht Politik lustig, und das bringt ihn den Jungen nahe. Da ist es völlig gleichgültig, wenn er sich von Zeit zu Zeit grundlegend widerspricht. Es ist auch egal, wenn er eine obskure Type vorne hinstellt; man weiß ja, er ist der wirkliche Machthaber. Die anderen Oppositionellen machen bloß Politik: Die Liberalen seriös, was fad ist. Die Grünen finden wenigstens Resonanz, wenn sie sich zu einem Professor aufschwingen, der so nachdenklich und sympathisch ist, daß er sogar die Chaos-Partei hinter sich verschwinden läßt.
Die Koalitionsparteien hingegen sind in den Sog diskreditierender Teufelskreise geraten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt, einige Wochen erst vor der Wahl, hätten sie tun können, was sie wollen: Der Wähler wandte sich mit Grausen. Sie kamen aus ihrem selbstgegrabenen Loch nicht mehr heraus, sondern gruben sich nur immer tiefer ein. Es war wie in der Endphase der Regierung Sinowatz: Der Regierungschef hätte damals eine nobelpreisverdächtige Rede halten können, und jeder hätte sich lächelnd abgewandt und gesagt: Ja, wir wissen, ihm ist alles zu komplex.
Das Politikdefizit Der beste Berater kann auf Dauer politische Inkonsistenzen und Leerformeln nicht vertuschen. Jeder weiß, daß sich die Proklamation der ewigen Neutralität mit der beschworenen aktiven europäischen Friedenspolitik nicht verträgt; aber Verdrängen und schlampiges Denken sind nichts Neues. Jeder weiß, daß die Pensionen in absehbarer Zeit deutlich gekürzt werden, und glaubt den freigebig verteilten Pensionsgarantien nicht mehr. Heuchelei und Unfähigkeit als normale politische Attribute - auch wenn man zugestehen muß, daß Österreich in hohem Maße funktioniert, ein reiches und sicheres Land ist. Es sind eher die erlebbaren Details, an denen die Feigheit der Politik, die Wahrheit - vor allem die unangenehmen Dinge - zu sagen, erlebbar wird.
Die Politik ist selbst desorientiert, weil sie nirgends mehr anecken will, und die Wähler begeben sich auf die Suche nach einer "orientierteren" Politik, die möglicherweise das große Unbehagen über die Gesamtentwicklung lindern könnte. Da mag man den modernen, flexiblen Menschen beschwören; aber die meisten Leute wollen einen sicheren Job, in dem sie sich auskennen. Da mag man die liberalisierte Weltwirtschaft hochpreisen; aber die meisten Leute wollen nicht in Konkurrenz zu Dritte-Welt-Ländern treten. Formeln von Emanzipation, Egalität und Event mögen schönfärben, was geschieht; de facto befinden sich die Familien im freien Fall und die Kinder werden unerziehbar. Alles wird möglich, aber Lebens- und Arbeitszeiten lassen sich nicht mehr in Einklang bringen. Dazu hat die Politik nichts zu sagen. Sie redet über das hinweg, was die Leute bewegt. Sie haben Angst. Aber die politischen Visionen, die gebastelt werden, bestehen nur darin, alles großartig zu finden. In dieser Verlassenheit suchen die Leute Sündenböcke - und es gibt welche, die sie ihnen liefern.
Freilich, Visionen sind überall Mangelware. Wenn man als halbwegs ehrlicher Redner durch die Lande zieht, kann man als ÖVP-Politiker den Bauern nur sagen: Gegen den Verfall der Schweinepreise kann leider nichts getan werden, und ein Drittel der Bauernhöfe wird in den nächsten Jahren auf jeden Fall noch eingehen.
Als SPÖ-Politiker kann man den Arbeitern nur sagen: Vergeßt unsere seinerzeitigen Arbeitsplatzgarantien, jetzt gibt es nur noch den Wettbewerb, und ihr müßt selber schauen, wo ihr bleibt.
Als SPÖVP-Politiker kann man den Pensionisten nur sagen: Wenn ihr euch Pensionskürzungen ersparen wollt, lebt nicht zu lange; und den Jungen: Stellt euch darauf ein, daß ihr zwar einzahlen dürft, aber nicht viel zurückbekommt.
Als irgendein Politiker kann man nur zu allen sagen: Das nächste Sparpaket kommt bestimmt.
In dieser Situation lügen manche lieber. Und den "spin-doctors" fallen nur Vertuschungs-Phrasen ein.
Das Denkdefizit Man kann schon verstehen, daß die große Koalition wegen Unerträglichkeit abgewählt wurde. Man kann weniger verstehen, warum der kärntnerischen Partie 30 Prozent der Stimmen zuteil wurden, und schon gar nicht, wieso die liberale Obfrau - als unbarmherzig seriöse Politikanbieterin - aus dem Parlament geflogen ist. Dabei soll keine Rolle spielen, daß viele die Bärental-Gruppierung als rechtsradikal, nazistisch oder faschistisch einschätzen; das ist sie nicht. Wir wissen, daß sie nur opportunistisch und populistisch ist. Sie ist dabei, sich mit Geschick in die Opposition zu manövrieren; auf daß in vier Jahren ihr Führer vom Bundespräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt werden möge. Dann ist Österreich wirklich im Eimer. Das werden die "war rooms" auch das nächste Mal nicht verhindern.
Österreich ist kein Land, in dem über Politik nachgedacht wird. Vor lauter Taktik überdribbelt man sich dauernd selbst. Es ist ein allzu kleines Land: Politik kann nur in Form persönlicher Beziehungen gedacht werden. Wer mit wem und vor allem wer gegen wen? Probleme gibt es genug. Aber kein Politiker traut sich den Leuten zu sagen, daß man bei einigen dieser Probleme etwas tun könnte, bei anderen nicht, und er traut sich vor allem nicht zu sagen, daß sie selbst das Ihre zum "falschen Leben" beitragen. Er traut sich nur zu versprechen, daß die Regierung für ihr Glück sorgen wird.
Die Regierung mag wegen Unerträglichkeit aufzulösen sein. Aber das Volk wäre auch aufzulösen. Wegen Indolenz, Indifferenz und Stupidität.
Der Autor ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Graz und Direktor der Technikum Joanneum.