Eine Krankheit mit vielen Gesichtern
Die Diagnose MS ist für viele Betroffene eine große seelische Belastung. Doch es gibt auch ein Leben danach, erzähltMS-Patientin Marianne.
Die Diagnose MS ist für viele Betroffene eine große seelische Belastung. Doch es gibt auch ein Leben danach, erzähltMS-Patientin Marianne.
Vor zwölf Jahren stand Marianne E. (Name ist der Redaktion bekannt) noch aktiv im Berufsleben. Der Stress ist meist groß und oft hält sie sich nur noch mit Kaffee auf den Beinen. Unerwartet treten Schwierigkeiten beim Gehen auf. "Zuerst dachte ich, dass käme von meinem übermäßigen Zigarettenkonsum und den Anstrengungen und habe mir nichts dabei gedacht. Da ich beruflich sehr engagiert war, habe ich den Weg zum Arzt immer wieder verschoben", erzählt die heute 54-Jährige.
Doch die Beschwerden werden langsam immer schlimmer, der Arztbesuch wird unausweichlich. Nach mehreren Untersuchungen bei verschiedenen Medizinern erfährt Marianne nach einem Jahr die Diagnose: Multiple Sklerose. "Das erste was ich mir dachte: wenigstens weiß ich jetzt was ich habe. Eigentlich war ich erleichtert als ich die Diagnose hörte."
Seit drei Jahren ist Marianne auf ihren Rollstuhl angewiesen. "Ich konnte immer schwerer aufstehen und bin ein paar Mal gestürzt und habe mir daher einen Rollstuhl zugelegt. Doch ich kämpfe immer noch, um aus dem Rollstuhl wieder heraus zu kommen. Und ich kann heute sogar wieder stehen."
Mittlerweile ist Marianne geschieden, ihr Mann kam mit ihrer Krankheit nicht zurecht. Doch dem Leben gewinnt sie heute mehr denn je positive Seiten ab. "Ich komme gut mit meiner Krankheit zurecht. Ich lebe jetzt in einer Behindertenwohnung von der Gemeinde, die ich mir selbst sehr schön hergerichtet habe. Ich bin sehr selbständig und lese viel. Mir wird eigentlich die Zeit zu kurz. Man muss sich einfach nur am Riemen reißen. Früher, als ich noch gearbeitet habe, bin ich immer unter großem Stress gestanden und habe nie Zeit für mich gehabt. Ich denke mir oft, wenn ich nicht so einen Raubbau an mir getrieben hätte, wäre die Krankheit vielleicht nicht ausgebrochen. Der Traum, wieder gehen zu können, wird sich wahrscheinlich nicht mehr erfüllen. Aber so paradox das auch klingen mag, ich genieße mein Leben mehr und lebe heute viel bewusster als früher. An gewisse Dingen kann ich mich einfach wesentlich mehr erfreuen."
Nicht alle Betroffenen kommen mit der Krankheit so gut zurecht wie Marianne, weiß Lucia Bauer-Bohle, Leiterin des Sozialdienstes bei der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft in Wien. Verzweiflung, Zorn und Angst überwiegen meist bei der Diagnosestellung, denn viel Patienten befürchten, dass der Rollstuhl für sie früher oder später ein unausweichbares Schicksal wird, was allerdings nicht immer der Fall sein muss. "Es ist eine große seelische Belastung, die Diagnose zu verarbeiten. Man weiß nicht, wie sich die Krankheit entwickeln wird und das kann heute auch niemand vorhersagen. Diese Phase der Unsicherheit ist sehr quälend", erzählt Bauer-Bohle von ihren Erfahrungen bei der Betreuung der Patienten.
Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, neben der Epilepsie die häufigste neurologische Erkrankung junger Erwachsener und die führende Ursache neurologischer Behinderung in dieser Altersgruppe. Kürzlich wurden erste Ergebnisse einer Studie zur Häufigkeit von MS in Österreich vorgestellt. Rund 8.000 Menschen mit MS leben in Österreich. Auf 100.000 Einwohnern kommen daher etwa 100 Erkrankte. Über 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Als eine zumeist im jugendlichen Erwachsenenalter beginnende, über viele Jahrzehnte verlaufende Erkrankung, hat MS großen Einfluss auf die soziale Situation und Lebensqualität von Patienten und Angehörigen.
Kabelbrand Ungefähr zwei Drittel spüren die ersten Symptome zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Nach etwa zehn Jahren stehen noch rund 50 Prozent der Patienten aktiven im Erwerbsleben. Die Erkrankten haben gegenüber dem Durchschnitt der österreichischen Bevölkerung jedoch eine nur leicht eingeschränkte Lebenserwartung. Viele Patienten bleiben über Jahrzehnte unbehindert.
Bei einem Krankheitsschub entzünden sich die Nervenbahnen von Gehirn und Rückenmark. Das, so die Mediziner, sei mit einem Kabelbrand vergleichbar. "Multiple Sklerose ist eine chronische Entzündungserkrankung, bei der es zum Untergang des Myelins kommt - die Isolierschicht der Nervenfasern", erklärt Primarius Wolfgang Kristoferitsch, Vorstand der Neurologischen Abteilung im SMZ-Ost (Donauspital) und Präsident der Wiener MS-Gesellschaft. "Bei längerem Verlauf wird auch das Axon geschädigt, das ist das Innere der Nervenfasern."
Die Krankheit tritt meist in Schüben auf. Nach einem Schub ist die Nervenleitfähigkeit teilweise unterbrochen. Meist wird die Isolierschicht neu aufgebaut und der Nervenstrang wieder funktionsfähig. Die Beschwerden klingen ab. Wenn die Erkrankung bereits längere Zeit besteht, wird auch das Axon geschädigt. Dies ist jedoch irreversibel und es kommt zu dauerhafter Behinderung.
Prinzipiell unterscheiden Mediziner bei der MS zwischen drei Verlaufsformen. In der Mehrzahl der Fälle - bei 85 Prozent der Betroffenen - verläuft die Krankheit primär schubförmig rezidiv. Das heißt, die Patienten haben zu Beginn der Erkrankung sogenannte Schübe, deren Auswirkungen sich anfangs meist spontan wieder sehr gut zurückbilden. Der nächste Schub setzt Monate oder sogar Jahre später ein. Zwischen den Schüben verschlechtert sich die Krankheit nicht. Die häufigsten Symptome der Multiplen Sklerose zu Beginn der Erkrankung sind Störungen des Tastsinns (40 Prozent) und der Sehnerven (35 Prozent). Auch Lähmungen treten bei einem Drittel der Betroffenen auf.
Viele dieser Schübe laufen im Zentralnervensystem von Patienten unbemerkt ab. Nur jeder zehnte Krankheitsschub verursacht Symptome. "Das ist einer der Gründe, warum es oft so lange dauert, bis die Diagnose MS gestellt wird, weil Patienten mit leichten Beschwerden, etwa Gefühlsstörungen, nicht zum Arzt gehen und die Probleme am Anfang häufig von selbst verschwinden", erzählt Kristoferitsch. "Diese Form geht leider im Laufe der Jahre in die sogenannte sekundär chronische Form über. Die Schübe werden seltener und verschwinden ganz. Die Symptome werden allerdings schleichend schlechter. Im Schnitt geht bei 50 Prozent der Patienten die schubförmige Verlaufsform nach zehn, 15 Jahren in diese sekundäre Form über."
Schwierige Diagnose Neben diesen beiden Verlaufsformen gibt es noch eine dritte Ausprägung der MS, die primär chronische Verlaufsform, die von Anfang an schleichend, ohne Schübe beginnt. "Das Problem dabei ist, dass die primär und sekundär chronische Verlaufsform sehr schlecht behandelbar sind", so der Neurologe.
Bei der Behandlung von MS hat sich in den letzten Jahren wesentliches getan. Seit etwa fünf Jahren stehen sogenannte Interferone zur Verfügung. Diese Medikamente helfen, die Entzündungsprozesse im Gehirn in den Griff zu bekommen. "Heute strebt man an, die Multiple Sklerose möglichst früh zu behandeln, vorausgesetzt es besteht eine Krankheitsaktivität", so Kristoferitsch. "Dahinter steht die Hoffnung und Erwartung, dass man den Übergang in den sekundär chronischen Verlauf möglichst weit hinausschiebt und dadurch die Lebensqualität über einen weitaus größeren Zeitraum erhalten bleibt. Die MS-Behandlung verfolgt eine ähnliches Ziel wie die Behandlung von zu hohem Blutdruck. Man versucht, Spätfolgen zu verhindern."
Völlig ungewiss ist heute noch, wie MS entsteht. "Es gibt viele Theorien und Hypothesen", erzählt Kristoferitsch. "Die meisten Forscher vertreten heute die Ansicht, dass MS eine Autoimmunerkrankung ist, beziehungsweise autoimmunologische Vorgänge eine wesentliche Rolle spielen. Es kommt letztlich zu einer Attacke gegen körpereigene Stoffe. Eine Hypothese ist, dass diese Autoimmunerkrankung durch nicht näher definierte Viren ausgelöst werden könnte." Auch dass wesentlich mehr Frauen als Männer die Krankheit bekommen, ist für Kristoferitsch ein Hinweise darauf, dass es sich bei der MS um eine Autoimmunerkrankung handelt, da Frauen eher dazu neigen.
Mediziner vermuten, dass MS als eigenständige Krankheit gar nicht existiert. Viele, sehr unterschiedliche Ursachen dürften bei entsprechender genetischen Veranlagung einen chronischen Krankheitsprozess in Gang bringen. Es würden zwar gewisse genetische Konstellationen für das Entstehen von MS eine Rolle spielen doch gilt heute als gesichert, so Kristoferitsch, dass MS keine Erbkrankheit ist.
So unterschiedlich die Krankheitsauslöser sind, so differenziert sind auch die auftretenden Symptome. Der Verlauf der Krankheit ist ebenfalls sehr variabel und keinesfalls vorhersehbar. Die endgültige Diagnose ist für den Arzt oft schwierig zu stellen ist und wird manchmal erst nach Jahren definitiv ausgesprochen.
Ein weiteres bisher ungelöstes Geheimnis von MS ist deren unterschiedliche geographische Verbreitung. MS kommt nicht überall gleich häufig auf der Erde vor. Hochrisikogebiete sind Nord- und Mitteleuropa, Nordamerika und Südaustralien. MS ist somit eine Krankheit, die vor allem in gemäßigten Klimazonen auftritt. Die Erkrankung wird in Richtung zum Äquator seltener. Bemerkenswert dabei ist, dass Kinder das Risiko des Einwanderungslandes übernehmen. Erwachsene dagegen behalten das Risiko ihres Heimatlandes.
Lähmende Müdigkeit Neben der medikamentösen Therapie setzen Mediziner heute auch auf sportliche Betätigung. "Wenn der Patient noch nicht wesentlich behindert ist, hat Sport einen sehr positiven Effekt, das Wohlbefinden kann wesentlich gesteigert werden." Auch physiotherapeutische Verfahren werden eingesetzt. Generell gilt: Die Mobilität möglichst lange aufrecht erhalten. Das vermeidet Sekundärkomplikationen, etwa Lungenentzündungen und Thrombosen.
Von den Patienten unterschätzt wird häufig die Müdigkeit, ein typisches MS-Symptom. "Diese lähmende Müdigkeit ist für Patienten sehr belastend. Sie sind rasch erschöpft. Es ist daher wichtig, dass entsprechende Pausen eingehalten werden und nicht mit Gewalt gegen die Erschöpfung angekämpft wird. Auch die Umgebung der MS-Patienten sollte von diesem Symptom wissen, damit Kollegen im Büro nicht denken, der Betroffene sei nur bequem", rät Kristoferitsch.
Eine Hoffnung für die Zukunft sieht Kristoferitsch in der derzeitigen MS-Forschung. "Es wird derzeit intensiv daran gearbeitet, die von Hirnbiopsien gewonnen Erfahrungen, klinisch umzusetzen. Wenn es gelingt, die verschiedenen Typen der MS bei Krankheitsbeginn zu diagnostizieren, dann könnte man eine maßgeschneiderte Behandlung durchführen. Das wäre sehr hilfreich."
Zum Thema: Beratung und Hilfe Informationen über MS bekommen Patienten und Angehörige bei der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft unter der Wiener Telefonnummer 40400-3121. "All jenen, die nach der Diagnose Beratung möchten, sind wir in jeder Hinsicht behilflich", erzählt Ursula Hensel, Geschäftsführerin der MS-Gesellschaft Wien.
Die 1965 gegründete Gesellschaft finanziert sich zum Großteil aus Spenden, denn nur für ein Drittel des Budgets kommt die Stadt Wien auf. Suchten früher in erster Linie stärker behinderte, sozial schwächere Patienten bei der MS Gesellschaft Hilfe und Unterstützung, so kommen heute auch viele jüngere, berufstätige Menschen, bei denen die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten ist. "Es besteht immer eine immense Nachfrage nach unseren Angeboten", so Hensel. Auch ein Tageszentrum steht den Patienten in Wien zur Verfügung. Betroffene können dort den Tag verbringen, sich waschen lassen, Ergo- und Physiotherapie besuchen und an Gruppenspielen teilnehmen. kun.
Spenden für die MS-Gesellschaft an: Kontonr. 00263298205 Bankverbindung: CA BLZ: 11000