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Geschätzte 200.000 Menschen leiden in Österreich an Magersucht oder Bulimie. Die Ursachen reichen von seelischen Traumata bis zu krankmachenden Schönheitsidealen.

Mein Magen schreit: ,Füll mich!' und schließlich fülle ich ihn/ Essen, essen, essen. Bis zum Übergeben./ Alles sinnlos./ Es ist die Seele, die nach Nahrung verlangt. Ihre Schreie sind stumm. Ihre Leiden verborgen. Ihre Sehnsucht unfassbar. Ihr Hunger ungestillt."

Die Qualen, die in diesem Gedicht einer Bulimie-Kranken zum Ausdruck kommen, hat Olivia Wollinger am eigenen Leib verspürt. Heute betreut die 31-Jährige selbst Frauen, die an Essbrechsucht erkrankt sind, und leitet die Selbsthilfegruppe "Zwanghaftes Essen" des Instituts Frauensache in Wien. "Wann werde ich essen, warum habe ich nur das alles wieder in mich reingestopft, wann werde ich wieder essen: Alles dreht sich ständig nur um's Essen", weiß Wollinger. Nicht selten sei Bulimie kombiniert mit einer Magersucht oder Anorexia nervosa. Dennoch bleibe die Krankheit lange unbemerkt. "Die Betroffenen durchschauen selbst lange nicht, dass Ihre Essanfälle und das darauf folgende Fasten, der exzessive Sport oder das Erbrechen nichts mehr mit einem ,Diättick' allein zu tun haben." Auch die Ursachen für die Essstörungen liegen meist im Dunkeln: Sie wurzeln in fehlenden Selbstvertrauen, einer unglücklichen Lebenssituation oder seelischen Traumata.

Kranke mit Doppelleben

Geschätzte 200.000 Menschen leiden in Österreich an Bulimie oder Magersucht. Die Dunkelziffer ist allerdings viel höher. Meist verwenden die Betroffenen viel Zeit, Energie und Geld darauf, ihre Anfälle durchzuführen - und sie gleichzeitig zu verbergen. Sie führen ein jahrelanges Doppelleben, ohne dass ihre Umgebung etwas ahnt. Obwohl es Anzeichen wie schlechtes Haar- und Hautbild, durch Erbrechen beschädigte Zähne oder stetige Gewichtszunahme gibt. Essattacken können von mehrmals täglich bis wöchentlich schwanken. Finden sie statt, könnten Betroffenen "einen Mord begehen", um an Essbares zu kommen - bis hin zum Wühlen im Müll. "Essen wird bei Bulimie-Kranken zum Kanal für ihre verleugneten Gefühle", erzählt die Leiterin der Selbsthilfegruppe. "Oft beginnt der Fressanfall nach Tagen der Disziplin mit etwas Gesundem, wie einem Apfel, dann werden aber Unmengen an Nahrung rasend schnell hineingestopft." Auffallend dabei sei das Verlangen nach weicher Nahrung. Essorgien, bei denen etwa acht Tafeln Schokolade in wenigen Minuten verschlungen werden, seien dabei keine Seltenheit.

Unfähig zum Genuss

In den Selbsthilfegruppen können sich Betroffene über ihre Probleme und den Sinn hinter ihrem Esszwang austauschen. Sie ist kein Ersatz für eine Therapie, kann diese aber begleiten. Gemeinsam lernen sie, Mahlzeiten schön anzurichten und im Anschluss auch zu genießen. Viele der betroffenen Frauen sind freilich nicht nur auf das Essen fixiert, sondern auch darauf, sich und ihren Körper massiv abzulehnen: "Egal wie sie sind und was sie tun: Es ist nie genug für sie", kennt Olivia Wollinger die inneren Zwänge. "Meist sind es Frauen, die sehr leistungsorientiert, perfektionistisch sind und sich permanent antreiben."

Genießen fällt umso schwerer. Ebenso die Aufgabe, für sich selbst zu sorgen: "Mir hat eine Betroffene erzählt, dass sie abends müde von ihrer Arbeit nach Hause kommt und glaubt, die Wohnung putzen zu müssen. Sie ist aber zu müde und erlaubt' sich nur durch einen Essanfall, nicht zu putzen."

Wenn die Betroffenen ihren Esszwang erkennen und darüber reflektieren wollen, ist der erste Schritt aus dem Teufelskreis bereits getan. Die Behandlungserfolge nach einer Therapie liegen zwischen einem gänzlichen Stopp oder einem deutlichen Rückgang der Essanfälle.

"Viele unserer Klienten sind innerlich nicht verwurzelt", erklärt Christian Zitt, Psychologe und Leiter der Abteilung Psychotherapie des Institutes "Sowhat" im 18. Wiener Gemeindebezirk, das mit einem 40-köpfigen Therapeuten- und Ärzteteam Therapien für Esstörungen auf Krankenschein anbietet. "Hat eine Mutter ihre Weiblichkeit abgelehnt, kann es dazu kommen, dass auch die Tochter sich nicht positiv mit ihrem Frausein identifiziert. Versucht nun das Mädchen dieses negative Erlebnis der Weiblichkeit der Mutter auszugleichen, verliert es die Wahrnehmung seiner eigenen Bedürfnisse. Innere Spannungen sind die Folge, die in der Pubertät zu Essstörung führen können." Auch die Rolle des Vaters ist entscheidend, weiß Zitt: Fehlt seine Wertschätzung, wird er als abwesend erlebt oder kommt es zu emotionalen oder sexuellen Übergriffen, können Essstörungen die Folge sein. Dazu kommt, dass schlanke, fast androgyne, sportliche Körper zum Schönheitsideal in unserer Gesellschaft erklärt werden und ein enormer Leistungsdruck im Beruf und in Schule besteht. "Gerade für Frauen ist der Druck am Arbeitsplatz enorm", weiß Zitt. "Zwar hat die Emanzipation hier Bahnbrechendes geleistet, dort wo Frauen glauben, Emanzipation heißt, wie Männer zu sein und zu agieren, verleugnen sie ihr eigenstes Wesen und somit ihre Weiblichkeit. Das kann so weit gehen, dass unter Managerinnen die Regelblutung ausbleibt."

Zulassen von Gefühlen

Derzeit werden 470 Klienten bei "Sowhat" psychologisch und medizinisch betreut. 92 Prozent davon sind Frauen, die meisten zwischen 20 und 35 Jahre alt. Wie lange die Therapie dauert, hängt wesentlich von den Ursachen ab, die der Essstörung zugrunde liegen - und davon, ob der Klient mit dem Therapeuten eine Vertrauensbasis aufbauen kann, weiß Christian Zitt. "Unsere Klienten versuchen durch eine Therapie wieder sich und ihre Bedürfnisse spüren zu lernen und ihre Gefühle wieder zuzulassen." Wichtig sei, die Gründe für die Essstörung zu finden, sonst könne es zu einer Symptomverschiebung kommen, wie etwa Kaufrausch oder Selbstverletzungen. Ist die Behandlung erfolgreich, kann ein Rückfall dennoch nie ganz ausgeschlossen werden. Ein erschütterndes Ereignis kann nach Jahren erneut ein Auslöser sein.

"Die eigentliche Herausforderung liegt aber darin," so Christian Zitt, "dass wir die Werte unserer modernen Gesellschaft kritisch überprüfen sollten, ob sie wirklich das sind, was wir Menschen für die Entwicklung unseres Selbstwertgefühls brauchen."

Nähere Hinweise zum Thema unter www.essstörungen.at, bei "Sowhat", Institut für Menschen mit Essstörungen, unter (01) 406 57 17 und www.sowhat.at sowie beim Institut Frauensache unter (01) 89 58 440 und www.frauensache.at. Informationen zur Selbsthilfegruppe "Esszwang" bei Olivia Wollinger unter wollinger@mail.at.

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