Ein Toter in Wien, fünf Bedrohte in Hall: Körperliche Gewaltakte an Österreichs Schulen sorgen für Aufregung. Der "leise" - und ungleich häufigere - schulische Psychoterror müsste nicht minder alarmieren.
Das Begräbnis des 14-jährigen Kevin war keine vier Tage her. Und wieder zückte einer das Messer. Diesmal nicht im Schmelztiegel Wien, sondern im fernen Tirol: Es war Dienstag vergangener Woche, als ein Elfjähriger in der Hauptschule in Hall bei Innsbruck mit seinem Butterfly-Messer prahlte und fragte, wer jetzt sterben wolle. Ein Mädchen meldete sich - "scherzhalber". Bevor der Bub blutigen Ernst machen konnte, verständigte eine Lehrerin die Polizei.
Noch am selben Tag wurde der Schüler suspendiert. Zwei Tage später trafen sich Klassenvorstand, Integrations- und Beratungslehrer, Schulpsychologe, Jugendwohlfahrt, Bezirksschulinspektor und Direktorin zu einer "Helferkonferenz" und zerbrachen sich den Kopf darüber, wie es zu diesem "ernst zu nehmenden Vorfall" kommen konnte. Und was getan werden muss, damit es beim nächsten Mal keinen Toten gibt. Wie zwei Wochen zuvor im Polytechnikum in Wien/Währing.
Nicht öfter, nur brutaler
Die zwei Gewaltexzesse in Klassenzimmern haben die Frage nach dem Aggressionspotenzial im "Lebensraum Schule" schlagartig ins Bewusstsein gerückt - und der Behauptung Nahrung geliefert, wonach die Gewalt stetig steigen würde. Indes warnen Expertinnen und Experten vor voreiligen Schlüssen: "Unsere Studien belegen nicht, dass es eine Zunahme der Gewalt an den Schulen gäbe", erklärt Dagmar Strohmeier, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität Wien. "Was man aber schon sagen kann, ist, dass es jetzt häufiger brutalere Vorfälle gibt." Gemeinsam mit Moira Atria hat Strohmeier - unter der Leitung von Dekanin Christiane Spiel - zahlreiche Studien zum Vorkommen aggressiven Verhaltens im schulischen Umfeld durchgeführt. Die Zahlen, die das Duo nach der Befragung von 2.184 Schülerinnen und Schülern zwischen zehn und 16 Jahren präsentieren konnte, sprechen für sich: Demnach wird fast jeder zehnte Schüler regelmäßig von Mitschülern körperlich attackiert. Bis zu 25 Prozent berichten von regelmäßigen verbalen Beleidigungen.
Opfer der schlimmsten Form des Psychoterrors, des "Mobbings", werden nach Studien des Bielefelder Schulforschers Klaus-Jürgen Tillmann immerhin fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler. Anders als bei körperlicher Gewalt, die überwiegend bei pubertierenden Buben - und vermehrt in Schulen mit Kindern aus einfacheren sozialen Schichten - vorzufinden sei, könnten bei psychischer Gewalt "kaum Geschlechtsunterschiede und so gut wie keine Schulformenunterschiede" festgestellt werden. "Diese Form der Gewalt findet sich in den Gymnasien der feinen Gegend genauso oft wie in Hauptschulen mit hohem Migrantenanteil", erklärt der wissenschaftliche Leiter der Laborschule Bielefeld im furche-Gespräch (siehe Beitrag rechts).
Indes sucht die Politik nach Maßnahmen aus der Gewaltspirale: Nach der Bluttat in Währing hat der Wiener Gemeinderat einstimmig ein "Sieben-Punkte-Paket" beschlossen (siehe unten). Ein Schritt, den Psychologin Dagmar Strohmeier prinzipiell begrüßt. Mindestens so notwendig sei freilich die entsprechende wissenschaftliche Begleitforschung - und ein langer Atem: "Schließlich kann man das komplexe Phänomen Gewalt nicht mit einer singulären Maßnahme lösen."
Eine Einsicht, die man auch im Bildungsministerium gewonnen hat. So will man im Dezember Schüler, Eltern und Lehrer zu einem "Schulpartner-Gipfel" laden, in dem die schulischen Verhaltensvereinbarungen ebenso diskutiert werden sollen wie der konstruktive Umgang mit Konflikten. "Das Ziel muss es sein, das anzusprechen, was vielleicht sonst übersehen wird", betont Harald Aigner, der im Ministerium Zuständige für den Bereich Schulpsychologie. Zudem will man endlich statistisch erheben, wie groß das Problem Gewalt an Österreichs Schulen tatsächlich ist.
Panik vor Schulbeginn
Aus Sicht der Lehrerinnen und Lehrer kein kleines - zumindest legt das die Zunahme an Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Aggression nahe: Wurden im letzten Wintersemester 67 angeboten, sind es heuer schon 157.
Die Hartberger Psychotherapeutin Christa Lopatka weiß um den steigenden Druck, dem sich Schüler und Lehrer gleichermaßen ausgesetzt fühlen. "Viele Kinder, die zu mir kommen, haben schwere Angstzustände", erzählt die Expertin. "Das sind Kinder, die in die zweite oder dritte Klasse Volksschule gehen und nicht mehr leben wollen." Auch heuer wieder hätten sich rund zwei Wochen vor Schulbeginn zahlreiche Schüler und Lehrer in Panik bei ihr gemeldet. "Eine Lehrerin hat zu mir gesagt: Bei diesen aggressiven Kindern mische ich mich gar nicht mehr ein. Schließlich weiß nicht einmal der Direktor, was er tun soll."
Infos: www.schulpsychologie.at
TIPP: SEELIGES WIEN
Sechste Informationsmesse über
Psychotherapie: Samstag, 22. Oktober,
9 bis 18 Uhr, Wiener Rathaus.
Um 14 Uhr spricht Dr. Christa Lopatka zum Thema "Gewalt in der Schule".
Nähere Infos: www.seeligeswien.at
Wiener Weg
Nach dem Tod des 14-jährigen Kevin an einer Polytechnischen Schule in Wien/Währing hat der Wiener Gemeinderat einstimmig ein Sieben-Punkte-Paket zur Gewaltprävention an Schulen beschlossen:
* Schul-Charta gegen Gewalt (mit Unterschriftenliste in jeder Schule und Klasse)
* Beratungsbroschüre für Lehrer, Eltern und Schüler
* Für alle Schularten flächendeckende Sprechstunden von Schulpsychologen
* Einrichtung psychosozialer Bezirkskommissionen
* Überprüfen von Präventiv-Modellen aus Europa
* Lehrer-Fortbildung im Aktionspaket "Sag Nein zu Gewalt"
* Mädchen stärken im Umgang mit Gewalt
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