Werbung
Werbung
Werbung

Sibirien, weites Land, wilder Osten der Glücksritter und Mafiosi. Alles gibt es im Überfluss: Kälte, Hitze, Bodenschätze und endlose Landstriche mehr oder weniger unberührter Natur. Kosaken und Zobeljäger, Goldgräber und Ölmagnaten - unterwegs im Auftrag der Zaren, der Kommunisten oder in eigenem Interesse. Sibirien hat alles und bekommt nicht viel dafür. So manche alten Völker Sibiriens sterben aus, ihre Sprachen zuerst. Doch das Leben geht weiter. Sibirjaken sind Kummer gewöhnt. Und Meister im Improvisieren. Redaktionelle Gestaltung: Robert und Sabine Dengscherz Gigantische Entfernungen, endlose Weite und überfüllte Straßenbahnen - eine Auswahl sibirischer Gegensätze.

Schnee so weit das Auge reicht, Birkenwälder, Nadelwälder, zugefrorene Seen und eine schier endlose Weite. Das ist Sibirien.

Atemberaubende Hitze, strahlend blauer Himmel, Badeurlaub am Baikal und staubtrockener Sandboden in der Stadt, Sonnenuntergänge bis spät in die Nacht - auch das ist Sibirien.

Unberührte Natur, Stahl- und Papierwerke von gigantischen Sowjetausmaßen, Stauseen wie Meere und undichte Pipelines, aus denen das schwarze Gold in die Taiga rinnt - Sibirien ist ein Land der Gegensätze. Das Land ist reich, die Bevölkerung arm. Die Sonne scheint fast täglich und das moderne Russland hingegen scheint weite Teile vergessen zu haben. Man schlägt sich nun alleine durch, der große Bruder kümmert sich nicht mehr.

Wo vor zwanzig Jahren ganze Wirtschaftszweige prosperierten und gefördert wurden, wo einst Moskau seine besten Leute hinschickte - unter anderem in die Verbannung -, blüht die Wirtschaft heute dann, wenn man vor Ort was macht, wie überall. Und manche Städte blühen wirklich auf, trotz allem.

Es geht schon irgendwie ...

Die Bedingungen sind rau, das Klima gewöhnungsbedürftig, extrem kontinental und staubtrocken. Da wächst nicht viel. Und die Bodenschätze beuten meistens andere aus. Das Leben in Sibirien ist hart und verlangt viel Arbeit für wenig Ertrag. In beinahe jeder Branche. Auch im Staatsdienst.

Das Land ist weit, die Wohnungen eng. Der Winter kalt, die Häuser warm und manchmal überheizt. Wenn alles funktioniert. Wenn nicht, dann ist es auch drinnen fast so kalt wie draußen.

Viele Straßen sind schlecht, im Winter fährt man über die zugefrorenen Flüsse und Seen. Manchmal bricht das Eis, aber meistens hält es. Manchmal gibt es ein Unglück, aber meistens geht schon alles irgendwie.

Viele Völker besiedeln Sibirien, aber Russisch versteht man so gut wie überall. Viele Religionen sind heimisch in Sibirien, Orthodoxie, Buddhismus, Schamanismus, Atheismus. Und viele Sibirjaken basteln sich aus dem reichhaltigen Angebot ihre eigene, persönliche Tradition und Kultur. Und lernen vor der Haustüre den Respekt vor der Natur.

Wenn einer eine Reise tut, dann opfert er unterwegs den Göttern, was er selber gerne isst und trinkt. Ein belegtes Brot mit Wodka. Vor dem Aufbrechen setzt man sich noch einmal hin und verweilt ein paar Minuten, das Land ist groß, hier nützt keine Eile. Selbst der Zug fährt langsam durch die Taiga, neun Tage transsibirisch von Moskau bis Wladiwostok. Wer schneller reisen will, muss fliegen um mit den Zeitzonen auch die natürliche Langsamkeit zu überwinden. Der Zeitbegriff ist ein anderer in Sibirien. Wir kommen nicht um 14.25 Uhr oder fünf nach neun, wir kommen irgendwann nächste Woche. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an. Es fährt auch nicht jeden Tag ein Bus, und es ist auch nicht in jedem Zug noch ein Platz frei, und wenn mans noch so eilig hat.

... für den, der duldsam ist ...

In Sibirien lernt der Mensch Geduld. Er braucht sie auch. Geduld mit dem Schicksal, Geduld mit der Politik, Geduld mit dem Arbeitgeber, der den Lohn nicht zahlt, Geduld mit dem Staat, der mehr nimmt als er gibt, und Geduld mit all den geduldigen Landsleuten, die sich so viel gefallen lassen, weil sie müssen.

Wir leben schlecht hier, oder? - wird der Reisende in der Transsibirischen Eisenbahn gefragt und weiß nicht, was er sagen soll, weil es stimmt und doch nicht stimmt. Der Lebensstandard ist sehr niedrig, die Lebensqualität zum Teil sehr hoch. Trotz allem.

Manche sind sehr glücklich hier und jetzt, und viele sind es nicht. Doch meistens ist man stolz auf dieses weite Land, das so besonders ist und anders. Frostig elegant, einladend und abweisend zugleich. Der Fremde kriegt nicht leicht ein Visum, mit dem es sich frei reisen lässt (wir Westeuropäer sind nicht gewohnt, solche Beschränkungen am eigenen Leib zu spüren), doch ist er einmal da, heißt man ihn auch willkommen. Meistens. Außer es gibt eine Vorschrift, die dagegen spricht. Vieles ist verboten in Sibirien, und keiner schert sich drum. Selbstständigkeit ist nicht erwünscht und kann sich doch verbreiten.

... und doch tut, was er will

Sibirien ist ein Land, das viel Einsamkeit kennt und unbewohnte Weite, aber auch Ballungsräume um Millionenstädte. Aus der einsamen Taiga und Tundra in die überfüllte Straßenbahn. Industrie und Folklore. Überlieferte Traditionen, aussterbende Sprachen und chinesische Einwanderungsflut. Multikulturelle Gesellschaft im postkommunistischen Einheitsbrei.

Sibirien ist größer als Europa und die usa zusammen, und geografisch nicht eindeutig definiert. In Europa meint man meist das gesamte russische Gebiet östlich des Ural. In Russland zählt man oft den "Fernen Osten" nicht mehr dazu, in manchen (selteneren) Quellen ist auch Jakutien ausgenommen. Es passt zur geheimnisvollen Aura Sibiriens, dass man nicht so genau zu wissen scheint, wo es endet.

Und auch der Name ist umstritten: "schlafendes Land", das "Erste", das "Höchste", der "Norden", für viele Erklärungen lassen sich Belege finden, doch Beweise gibt es keine.

Sibirien gibt sich nicht so leicht geschlagen. Es versteckt seine Geheimnisse hinter gigantischen Entfernungen, friert sie ein im Winter und bringt sie im Sommer zum Glühen.

Seit Millionen Jahren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung