Isolation - © Foto: iStok / Xesai

Marianne Gronemeyer: Was hält uns noch lebendig?

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Der Sicherheit wurde und wird in der Corona-Pandemie vieles geopfert – auch und besonders das lebendige Miteinander. Wie kritisch darf man das sehen? Ein Gastbeitrag als Auftakt einer FURCHE-Debatte.

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Der Sicherheit wurde und wird in der Corona-Pandemie vieles geopfert – auch und besonders das lebendige Miteinander. Wie kritisch darf man das sehen? Ein Gastbeitrag als Auftakt einer FURCHE-Debatte.

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Angesichts eines leeren Blattes ist der erste Satz immer ein Wagnis. Wer sich jedoch zu Beginn des Jahres 2021 anschickt, den ersten Satz eines Kommentars zum Corona-Komplex zu schreiben, steuert geradewegs auf eine Schreibblockade zu. Nicht, weil es nichts mehr zu sagen gäbe, sondern weil er oder sie fürchten muss, bei der leisesten Infragestellung der vorherrschenden Deutung unserer coronageprägten Lage unisono für wahlweise bösartig, verrückt, asozial oder zum Fall für den Verfassungsschutz erklärt zu werden. Dabei steht beileibe nicht nur der gute Ruf der Verfasser auf dem Spiel, sondern vor allem das Aufeinander-Hören und das dringend benötigte vielstimmige Gespräch, das von den immer schrilleren wechselseitigen Kampfansagen zum Verstummen gebracht wird.

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Also, worum geht es? Es geht um Sicherheit; aber um welche? Grundsätzlich lassen sich zwei ganz verschiedene Arten oder Kulturen menschengemachter Sicherheit denken: eine conviviale und eine technogene. Die conviviale Sicherheit entsteht aus dem Vertrauen auf das Gegebene, auf die in der jeweiligen Lebenswelt vorgefundenen Möglichkeiten, die zu immer neuen Formen der wechselseitigen Entfaltung drängen: zu diesen Gegebenheiten gehören die Gaben der Natur ebenso wie die Begabungen der Menschen; ihre Fähigkeit, sich zu verständigen, die Geschicklichkeit ihrer Hände, ihre Erfahrungen, Phantasien und Träume, ihre Lust am Lernen und Tätigsein – und ihre Bereitschaft, es sogar unter widrigen Umständen, leidlich miteinander auszuhalten.

Conviviale Sicherheit

Diese Möglichkeit, sich hinreichend sicher zu fühlen, tragen wir also am eigenen Leibe, denn wir Menschen sind an sich sehr gut geeignet, unser Leben convivial, d. h. in gedeihlichem Miteinander, zu meistern, und die Natur ist an sich in der Lage, es mit uns auszuhalten. Alles in allem beruht diese Sicherheit darauf, dass wir uns den Unwägbarkeiten des Lebens als daseinsmächtige Wesen gewachsen fühlen in dem Bewusstsein, dass wir nun einmal sterblich sind und dem Tod sein Daseinsrecht inmitten des Lebens einräumen müssen. Die andere Sicherheit beruht darauf, dass wir gegen alle Eventualitäten des Lebens gewappnet (d. h. mit geeigneten „Waffen“ gerüstet) sind. Wenn wir unsere Existenz auf diese Weise sichern wollen, finden wir eine gänzlich andere Ausgangslage vor. Wir nehmen dann unsere Daseinsbedingungen als in jeder Hinsicht ungenügend und verbesserungsbedürftig wahr und unsere eigene Konstitution als beklagenswert, ja beschämend hinfällig, schwach und „antiquiert“ (Günther Anders). Nicht das Zusammenspiel der in einer Gemeinschaft vorhandenen Kräfte und Talente, sondern die Spitzenleistungen der Besten, die sich in „belebender“ Konkurrenz zu immer größeren Anstrengungen anfeuern, lassen ein Mehr an Sicherheit erhoffen.

Technogene Sicherheit

Sicherheit ist dann nicht im Spiel mit den Gegebenheiten zu suchen und zu finden, sondern in der Herstellung eines wissenschaftlich-technischen Milieus, das umso besser funktioniert, je vorausschauender die Experten sind. Immer neue Gefahrenquellen werden von den zuständigen Thinktanks aufgespürt, immer neue Risiken entdeckt und durch Prävention unschädlich gemacht. Nicht mehr einzelne Personen und Gemeinschaften entscheiden, welches Maß an Sicherheit ihnen genügen soll, damit die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt wird, sondern die Sicherheitsstandards, die nach Maßgabe des technischen Fortschritts ständig neu justiert werden. Und da der letzte Daseinszweck all dieser Anstrengungen darauf hinausläuft, das von Sterblichkeit gezeichnete Leben vor dem Vergehen zu bewahren – jedenfalls so lange wie möglich –, dreht sich die Spirale der Aufrüstung gegen den zum Skandal erklärten Tod unaufhaltsam weiter und gefährdet schließlich sogar unser Überleben. Beide Sicherheitskonzepte haben ihren Preis. Die conviviale Sicherheit ist ohne die Mäßigung des Sicherheitsbegehrens und ohne eine freiwillige Genügsamkeit in allen Dingen des Lebens nicht vorstellbar.

Ivan Illich beschreibt diese Haltung als joyful austerity, als frohgemute Armut, als heiteren Verzicht. Die technogene Sicherheit kann sich niemals mit einem erreichten Level zufriedengeben. Nichts ist gut genug, solange noch etwas „Besseres“ – nämlich technisch herstellbare Unsterblichkeit – gedacht werden kann. Die an immer komplexeren und teureren Apparaten, Institutionen und Maßnahmen hängende Sicherheit ist immer knapp, sie kann nie für alle reichen, die nach ihr streben. Das unersättliche Bedürfnis nach Sicherheit ist der perfekte Motor der Wachstumsgesellschaft, die auf Versorgungslücken nur mit der Vermehrung der Vorräte reagieren kann, niemals mit der Mäßigung des Begehrens. Schon in den frühen 1970er Jahren sah Ivan Illich zwei Wege in die Zukunft: Den Weg der Konvivialität, des lebendigen Miteinanders in Genügsamkeit und Selbstbegrenzung – und den Weg des Wachstums unter zunehmender Kontrolle und Überwachung der Gesellschaftsmitglieder. Das eine ist der Weg der Befreundung, des gegenseitigen Beistandes und des Teilens (Erich Fromm), das andere der Weg der Rivalität um knappe Ressourcen, bei dem es Sieger und vor allem Verlierer geben muss.

Idolisierte und ignorierte Wissenschaft

Die Pandemie offenbart nun in nie gekannter Deutlichkeit, dass längst die Weichen gestellt waren für den Weg der Kontrolle und der technischen Beherrschbarkeit von Tod und Leben, der in ein unlösbares Dilemma führt: dass nämlich die Rettung des Lebens, mit dem Verlust des lebendigen Miteinanders erkauft werden muss. Aber hat denn, da dieser Weg nun einmal vorgezeichnet war, die Pandemie wenigstens eine „intelligente Kontrolle“ des Geschehens befördert, fragt David Cayley in einem Beitrag des "International Journal of Illich Studies“: „Die Politik war mehr von Panik getrieben als von Klugheit geleitet“, schreibt er, „die Wissenschaft wurde gleichermaßen idolisiert und ignoriert; die Reichen haben sich weitere Vorteile verschafft, während“ [...] die ohnehin Benachteiligten durchs Sieb fielen.

Politische Feindseligkeiten haben sich verschärft; politische Kategorien wurden rigider und einschränkender; die Medien wurden immer einheitlicher und zunehmend selbstzensierend; die Kranken und Sterbenden blieben ungetröstet, und die Menschen fürchten einander mehr und mehr.“ Wer bezweifelt, dass der Rettung des Lebens Vorrang vor allen anderen Belangen des Daseins gebührt, ist zynisch. Zugleich beweist das herzzerreißend einsame, jeglichen Beistandes beraubte Sterben auf den Intensivstationen, das „Leben“ in völliger Absonderung in den Pflegeheimen und der Kummer der Angehörigen, denen jeder Zugang zu ihren Nächsten verwehrt wird, dass wir auf dem falschen Weg sind, wenn wir die Lebendigkeit der Bekämpfung des Todes opfern. Der Preis ist zu hoch, er kostet unsere Humanitas.

Das einsame Corona-Sterben zeigt, dass wir auf dem falschen Weg sind, wenn wir die Lebendigkeit der Todes-Bekämpfung opfern.

Das technogene Milieu strahlt Kälte aus, aber es tut das auf politisch korrekte Weise. Politische Korrektheit ist brandgefährlich, aber untadelig. Sie ist die ethische Ideologie der technokratischen Gesellschaft. Sie behauptet sich, indem sie alles Fühlen, Tun und Denken, das sich ihrer Logik entzieht, kategorisch ins Unrecht setzt. Unmerklich wird unter ihrem Regiment alles Gute durch das ersetzt, was geboten ist, die Fürsorge füreinander durch die Zuteilung knapper Mittel, die Barmherzigkeit durch moralische Pflichtübung und die Hoffnung (wider alle Vernunft) durch kluges Erwartungsmanagement. Aber Barmherzigkeit und Nächstenliebe sind niemals politisch korrekt, sie sind anstößig. Der Samariter, der dem ausgeplünderten Juden am Wegesrand, dem Erzfeind, die Wunden verband, verhielt sich nach den geltenden Normen seiner Gemeinschaft völlig unkorrekt. Er ließ sich leiten vom erbarmungswürdigen Anblick des Elenden und machte sich damit sogar des Verrats an seiner eigenen Gemeinschaft schuldig.

Das Urbild der Konvivialität ist der gastliche Tisch, um den sich die Tischgenossen zum gemeinsamen Mahl und zur freien Unterredung versammeln. Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, der gebrochen und miteinander geteilt wird, ein Krug Wein, der ausgeschenkt wird, und eine Kerze, die für den oder diejenige steht, die vielleicht an die Tür klopfen und Einlass begehren werden. Denn eine Tischgesellschaft darf nie geschlossen sein. Die Tischgemeinschaft lebt davon, dass die Menschen leibhaftig beieinander sind, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und sich vertrauen, gerade weil sie einander das offene, ungeschützte Antlitz darbieten. Wenn aber prinzipiell jeder jeden gefährdet und alle von allen gefährdet werden, dann ist eben Vertrauen keine Tugend, sondern Misstrauen geboten. Das ungeschützte Antlitz, einst Inbegriff der Wehrlosigkeit, wird zur Quelle der Bedrohung. Jede Berührung kann schweren Schaden anrichten, denn das Virus lauert überall.

Solidarisch und hilfsbereit sind wir, wenn wir uns voneinander fernhalten, denn voneinander haben wir nichts mehr zu hoffen. Wir können das technogene Milieu nicht ungeschehen machen und seiner Logik nicht entkommen. Dagegen anzurennen ist so aussichtslos, wie den Mond anzubellen. Wir können nur „inmitten der Hölle suchen und zu finden wissen, was Nicht­-Hölle ist und ihm Bestand und Raum geben“ (Italo Calvino). Wir können inmitten der Kälte kleine Wärmeströme entstehen lassen. Wir können einander dazu verhelfen, uns fremd zu fühlen in der komfortablen Kälte. Wir können der Versuchung widerstehen, das technogene Milieu ganz gemütlich zu finden und die Sehnsucht nach lebendigem Zusammensein ruhigzustellen. Und sei es mit Maske und Abstand.

Wärmestrom in der Kälte

Was Nicht­-Hölle inmitten der Hölle sein kann, will ich an einer Szene verdeutlichen, die mehr sagt als jedes Argument: Wir waren sehr erschüttert von einem Anruf am Tag vor Heiligabend, in dem uns mitgeteilt wurde, dass der Gottesdienst in der wunderbaren Oppenheimer Katharinenkirche, zu dem wir uns schon mit Unbehagen „angemeldet“ hatten, abgesagt wurde. Dass man sich zu einem Gottesdienst anmelden muss, ist ja bereits ein Unding, dass er aber abgesagt werden kann, ist seinem Wesen gänzlich fremd. Aber dann fanden wir im Briefkas­ ten eine Botschaft unseres Bürgermeisters, dass in Friesenheim ein Gottesdienst stattfinden sollte, auf dem Platz vor dem Gemeindezentrum. Kurz vor Beginn begann es dann zu stürmen und zu regnen, aber das hielt uns, wie auch um die 50 andere Friesenheimer, nicht ab. Es war an alle pandemischen Regularien gedacht. Irgendwo auf der angrenzenden Wiese stand sogar ein Tischchen mit einer Flasche mit Desinfektionsmittel, sodass wir alle unsere Hände in Unschuld waschen konnten. Und dann gab es eine nach allen Regeln der Gottesdienstkunst desaströse Zeremonie. Nichts klappte.

Die aufgestellten Sitzbänke waren klitschnass. Der Pfarrer tauchte mit wehendem Talar zu spät auf, weil in seinem Auto die Scheiben so beschlagen waren, dass er sich nicht auf die Straße trauen konnte. Er eilte von Dorf zu Dorf, und sein Friesenheimer Gottesdienst war schon der sechste. Unablässig ging das Licht aus, sodass er seinen Text aus den Augen verlor. Und dann hielt der Pfarrer eine Predigt, die sicher keine Glanzleistung wohlgesetzter Worte war, aber dennoch ein ganz neues, glänzendes Licht auf das Ereignis warf: Er sprach von dem Bemühen der Menschen, ein perfektes Weihnachten zu gestalten, bei dem sogar die Überraschungen minutiös geplant und quasi rituell abgearbeitet werden. Und dann kam er darauf zu sprechen, wie die Pandemie all die schönen Träume von einem perfekten Familienfest zunichtegemacht habe. Doch auch in Bethlehem im Stall habe eine alles andere als perfekte Weihnacht stattgefunden, vielmehr habe ein großes Durcheinander geherrscht, das niemand verstand – am allerwenigsten wohl der arme Joseph. Und auf einmal hatten wir das Gefühl, an dem weihnachtlichsten aller je erlebten Gottesdienste beteiligt gewesen zu sein. Sehen Sie, das meine ich mit einem Wärmestrom inmitten technokratischer Kälte.

Die Autorin ist Sozial- und Erziehungswissenschafterin und gilt als Vordenkerin der wachstumskritischen Debatte. Bücher: „Die Macht der Bedürfnisse“, „Genug ist Genug“, und zuletzt „Die Grenze. Was uns verbindet, indem es uns trennt“.

Lesen Sie hier die Replik der Pastoraltheologin Regina Polak auf den Gastkommentar von Marianne Gronemeyer.

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