Rechenmaschine  - Soziale  Messung Im Jahr 1623 wurden erstmals Rechenmaschinen (dieses Modell stammt von 1890)  urkundlich  erwähnt. Mit ihrer Hilfe wurde im  Laufe der Zeit (auch) menschliches Verhalten in einem sozialen Umfeld  gemessen. - © Foto: Getty Images  / SSPL

"Paradoxe Folgen überall"

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Armin Nassehi, einer der meist beachteten Denker der Gegenwart, erklärt, warum die Digitalisierung ein gesellschaftliches Problem löst und unsere ureigensten Strukturen entlarvt.

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Armin Nassehi, einer der meist beachteten Denker der Gegenwart, erklärt, warum die Digitalisierung ein gesellschaftliches Problem löst und unsere ureigensten Strukturen entlarvt.

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Zugespitzte Sager über die Gesellschaft sind das Markenzeichen des Münchener Soziologie-Professors Armin Nassehi. Seine Vorlesungen im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität haben Kult-Charakter. Auch die TV-Talkshows reißen sich um ihn. Mit der FURCHE sprach er in einem Wiener Kaffeehaus über sein neues Werk „Muster. Theorie einer digitalen Gesellschaft“, mit dem er bisherige sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle wieder einmal gehörig auf den Kopf gestellt hat.

DIE FURCHE: Der digitale Wandel hat Herausforderungen mit sich gebracht. Viele Ihrer Kollegen behaupten, nicht wenige gesellschaftliche Probleme wären ihm geschuldet. Stimmen Sie dem zu?

Armin Nassehi: Dazu muss man sagen: Eigentlich macht alles Probleme, ganz egal,
wonach Sie mich jetzt gefragt hätten. Also ja, die Digitalisierung macht Probleme, aber sie ist auch eine Lösung. Das ist der Kern meines Interesses. Die Problem-Lösung-Konstellation der Digitalisierung. Welche Probleme löst sie? Welche macht sie? Das ist der Grund, warum ich mich damit beschäftige.

DIE FURCHE: Sie behaupten also, die Digitalsierung macht kein Problem, sie löst es?

Nassehi: Sie spielen auf die Grundfrage meines Buches („Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“; Anm. der Red.) an: Welches Problem löst die Digitalisierung?
Das ist nicht nur so ein dahin gesagter Satz, sondern das ist ein methodisch kontrollierter Zugang. Wir Sozialwissenschaftler nennen das Funktionalismus. Man sieht sich die Dinge an, die da sind. Wenn solche Dinge permanent da sind, nicht mehr wegzudenken sind, dann müssen sie offenbar ein Problem lösen. Sonst würde es sie nicht geben.

DIE FURCHE: Wenn etwas eine Struktur bekommt und bleibt, dann fragen Sie: Welches Problem steckt dahinter?

Nassehi: Ja. Allerdings ohne zu werten. Die Zuschreibung von Lösung und Problem heißt nicht, dass die Lösung eine gute Lösung ist. Zunächst geht es um die Relation von Problem und Lösung.

DIE FURCHE: Und welches Problem ist es, das die Digitalisierung für uns löst?

Nassehi: Sie ist das Equipment für eine moderne Gesellschaft, die schon vor der Digitalisierung digital gewesen ist.

„ Die Digitalisierung hat bereits vor der Erfindung des Computers stattgefunden: gegen Ende des 18. Jahrhunderts. “

DIE FURCHE: Der Beginn der Digitalisierung fällt also nicht mit der Erfindung des Computers zusammen?

Nassehi: Die Digitaltechnik schon, aber eine digitalisierte Denkungsart hat schon zum Teil im 18. Jahrhundert begonnen, spätestens aber nach der Französischen Revolution mit der Entstehung moderner Nationalstaaten. Damals entstand eine neue Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften. Bis in die frühe Moderne hinein haben sich Gesellschaften durch die Tradition selbst wahrgenommen. Man wusste alles, was man machen sollte, aus der Vergangenheit. Als die Gesellschaft gewachsen ist, leistungsfähiger geworden ist, Städte größer geworden sind, funktionierte das nicht mehr.

DIE FURCHE: Die Komplexität der Gesellschaft wurde zu einem Problem, das gelöst werden musste ...

Nassehi: Wir sind gewohnt, in großen Städten zu wohnen. Das gab es ja früher nicht. Eine Stadt müssen Sie aber berechnen. Wie viele Bäcker braucht man? Wie viele Ärzte? Wie breit muss eine Kanalisation sein, damit es abläuft? Wie viele Schulen muss es geben, damit genügend Arbeitskräfte ausgebildet werden können? Was braucht ein bestehendes Heer, damit es wirklich schießen kann? Was ich damit sagen will, ist: Damals entstanden Statistiken. Man hat Daten erhoben. Man hat Erfahrungen aufgeschrieben. Man hat mit wissenschaftlichen Mitteln versucht, rauszukriegen, wie die Verteilung von Einkommen funktioniert. Die soziale Frage wurde bearbeitet. Man hat Versicherungen erfunden, die die interessantesten Mustererkennungsapparate überhaupt sind. Um zu bestimmen, wie hoch die Prämie eigentlich sein muss, muss man Wahrscheinlichkeiten berechnen – das ist eigentlich ein Algorithmus. Im Zuge dessen sind dann statistische Ämter entstanden.

DIE FURCHE: Die wiederum Daten gesammelt haben.

Nassehi: Das waren die mächtigsten Organisationen überhaupt, weil dort die Informationen zusammengekommen sind. So wie heute die Facebooks usw.

DIE FURCHE: In Ihrem aktuellen Buch kritisieren Sie, dass die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Digitalisierung zu einseitig geführt wird.

Nassehi: Ich habe mich ein wenig geärgert über die Literatur. Da sind sozialwissenschaftliche Perspektiven, die sich gar nicht für die Technik selbst interessieren und die dann hingehen und nur an den Störungen – die es ganz offenkundig gibt – ansetzen, anstatt zu fragen, warum sich ausgerechnet diese Störung durchsetzt. Die Gesellschaft fühlt sich ja durch neue Techniken und Medien immer gestört. Ich habe deshalb den umgekehrten Zugang gewählt und die Digitalisierung als Lösung beschrieben, um dann zu fragen: Wofür eigentlich?

DIE FURCHE: Hat nun die technische Revolution einen gesellschaftlichen Umbruch bewirkt, oder nicht?

Nassehi: Ja und nein. Unsere Kommunikationsformen haben sich total verändert. Die Geschwindigkeit, Information zu übertragen, hat sich total verändert. Das hat wahnsinnige Auswirkungen auf die Demokratie. Es bringt neue Akteure in die Position, Kontrolle auszuüben über die Gesellschaft. Es ist die ganz neue Form der Wertschöpfung im wirtschaftlichen Bereich. Aber das ist schon sehr disruptivNeues. Aber: Meine These ist dem entgegengesetzt. Nämlich, dass sich in der Digitalisierung eine gewisse Kontinuität der modernen Gesellschaft zeigt. Sie veranschaulicht sozusagen ihre strukturelle Stabilität.


DIE FURCHE: Würden Sie uns das an einem Beispiel erläutern?

Nassehi: Ich interessiere mich z. B. für Exoskelette. Menschen mit gelähmten Beinen bekommen ein Skelett, in dem ein Rechner drin ist. Dieser kann aus kleinsten Bewegungen des Beckens herausbekommen, wie das Gehirn wohl den Fuß bewegen will und errechnet dann, wie der Fuß entsprechend bewegt werden muss. Menschen mit Lähmungen können dadurch teilweise wieder laufen. Dafür muss man stabile Muster herauskriegen, mit deren Daten der Apparat gefüttert wird.


DIE FURCHE: Und die Gesellschaft funktioniert Ihrer Ansicht nach ähnlich?

Nassehi: Ja. Das Verhältnis Gehirn-Körper-Exoskelett funktioniert ähnlich wie das von Digitaltechnik und Gesellschaft. Die Digitaltechnik sammelt Daten und kann dann mit relativ hoher Wahrscheinlichkeiten Vorhersagen treffen. Etwa wie Geldströme funktionieren, wie sich Aktien entwickeln. Auch die Kriminologie arbeitet heute mit Musterdaten und untersucht so, ob ein bestimmtes Verhalten einer bestimmten Gruppe Gewaltausbrüche wahrscheinlicher macht oder nicht. Das kann man nicht mit bloßem Auge sehen, das kann man aber mit solchen Datenverarbeitungsformen machen.


DIE FURCHE: Das Phänomen der Digitalisierung entlarvt und beschreibt uns als Gesellschaft sozusagen?

Nassehi: Genau. Die große Demütigung ist doch, dass man über relativ wenige Informationen über einen Menschen viel über ihn herauskriegt. Also wenn ich an mich selbst denke: Ich habe einen sehr privilegierten Beruf. Ich könnte mich stilisieren als einen unfassbaren Individualisten. Aber wenn ich mal anschaue, was ich alles so mache: Meinen Kleidungsstil, meine Wohnungseinrichtung, das Auto, das ich fahre, mein Musikgeschmack, die Art und Weise, wie ich Urlaub mache, meine sozialmoralischen Urteile, die Konsumprodukte,die ich kaufe – das alles ist unfassbar erwartbar. Das ist demütigend, denn so individuell scheine ich ja nicht zu sein.


DIE FURCHE: Ein Individualist zu sein, ist es das, wonach der Mensch strebt?

Nassehi: Ja, das ist unsere Selbstbeschreibung. Wir stellen uns doch als unverwechselbare Personen dar. Natürlich sind wir das auch auf eine gewisse Weise. Aber vieles ist unfassbar langweilig und erwartbar. Selbst die Abweichungen sind erwartbar. Das ist ja etwas, das auf die Strukturiertheit der Welt verweist. Und diese Strukturiertheit der Welt macht sich die Digitalisierung zunutze, um damit etwas zu erreichen.


DIE FURCHE: Inwiefern?

Nassehi: Ich beschreibe das mit einem Beispiel. Es gibt zurzeit in den USA eine Diskussion über Algorithmen, die im Rechtswesen eingesetzt werden, um die
Wahrscheinlichkeit zu berechnen, ob jemand wieder straffällig wird oder nicht. Das ist ganz wichtig für Anwälte im Hinblick auf Prozessstrategien. Und bei Gericht – für die Frage, ob Strafen zur Bewährung ausgesetzt werden oder nicht. Und da gibt es jetzt Kritiker, die sagen, diese Algorithmen seien rassistisch. Weil sie jemandem, der eine schwarze Hautfarbe hat, womöglich eine schlechtere Prognose geben.


DIE FURCHE: Algorithmen per se eine politische Einstellung zu unterstellen, ist eine gewagte Argumentation.

Nassehi: Nein, Algorithmen haben keine politische Einstellung. Aber die Daten sind nicht objektiv, sondern sind eben von dieser Welt. Und so kommen letztlich auch alle Vorurteile, alle Asymmetrien usw. der Gesellschaft in den Daten vor. Darüber sollte man sich nicht wundern, sondern Datenkritik betreiben und sich fragen, auf welcher Grundlage eigentlich entschieden wird.


DIE FURCHE: Stichwort „Digitale Soziale Netzwerke“. Welche Rolle spielen diese in Ihrer Theorie?

Nassehi: Facebook und Co. ermöglichen eine sehr niedrigschwellige Form der Kommunikation, die gerade dadurch ein hohes Konfliktpotential haben.


DIE FURCHE: Hieß es nicht immer, Kommunikation löst Konflikte?

Nassehi: So wurde lange Zeit argumentiert. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Die Digitalisierung hat ganz neue Kommunikationsformen eröffnet und damit den Kommunikationshaushalt unserer Gesellschaft total verändert.

„ Nehmen wir die Zeitung. Man hat jahrelang dafür gekämpft, dass die Leute alles reinschreiben können. Jetzt steht alles drin, und wir haben noch weniger Orientierung. “

DIE FURCHE: Die Digitalisierung führt zu mehr Kommunikation, was wiederum zu mehr Konflikten führt?

Nassehi: Zu mehr Störungen, ja. Einige Denker sagten ja das Gegenteil vorher: Dass durch die Digitalisierung Transparenz entsteht und damit die Gesellschaft demokratischer gemacht wird.


DIE FURCHE: Ist das ein Plädoyer dafür, die Transparenz zurückzunehmen?

Nassehi: Nein! Auf keinen Fall. Das kann man ja gar nicht mehr. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass sich alles ganz anders entwickelt hat, als man gedacht hat. Die Erwartungen waren ja riesengroß. Diese Desorientierung durch mehr Transparenz ist im Übrigen nicht neu.


DIE FURCHE: Zu viel Wissen verwirrt die Gesellschaft seit jeher?

Nassehi: Nehmen wir die Zeitung. Man hat jahrelang dafür gekämpft, dass die Leute alles in die Zeitung reinschreiben können. Jetzt steht alles in der Zeitung, und wir haben noch weniger Orientierung, weil unterschiedliche Sachen in der Zeitung stehen. Wir fragen uns: Was stimmt denn jetzt eigentlich? Oder denken Sie an Forschung. Die möchte Wahrheitsfragen beantworten. Eigentlich eine tolle Sache. Wenn ich etwas nicht weiß, frage ich einen Forscher. Frage ich einen anderen Forscher, sagt der etwas anderes. Das ist kein Zeichen für das Scheitern von Wissenschaft, sondern eines für deren Leistungsfähigkeit. Paradoxe Folgen allüberall. Das ist das Interessante.


DIE FURCHE: Was bedeutet diese Schlussfolgerung letztlich? Dass die Digitalisierung die logische Folge der Evolution ist?

Nassehi: Ja, nämlich der gesellschaftlichen Evolution.

NassehiMuster

Muster
Theorie der digitalen Gesellschaft
Von Armin Nassehi
C. H. Beck 2019
352 S., geb.,
€ 26,80

Armin Nassehi - Armin Nassehi. - © Foto: Hans-Günther Kaufmann

Armin Nassehi

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