Philosoph Josef Mitterer: "Wahrheit ist eine verbrauchte Idee"
Die Kunst der Unterscheidung gehört zum Alltag. Aber sind wir überhaupt fähig, Trennlinien zwischen „wahr“ und „falsch“, „normal“ oder „abnormal“ zu ziehen? Und hat sich das Konzept von "Wahrheit" erschöpft? Ein Gespräch mit den beiden Philosoph(inn)en Katharina Neges und Josef Mitterer.
Die Kunst der Unterscheidung gehört zum Alltag. Aber sind wir überhaupt fähig, Trennlinien zwischen „wahr“ und „falsch“, „normal“ oder „abnormal“ zu ziehen? Und hat sich das Konzept von "Wahrheit" erschöpft? Ein Gespräch mit den beiden Philosoph(inn)en Katharina Neges und Josef Mitterer.
Der vergangene Politik-Sommer war nachgerade philosophisch: Was ist normal, was abnormal, was Fakt, was Fiktion? Diesen heftig diskutierten Kategorien – und ihren Unterscheidungen – widmeten sich die Grazer Philosophin Katharina Neges und der Klagenfurter Philosoph Josef Mitterer in einem Seminar des diesjährigen Europäischen Forum Alpbach. DIE FURCHE hat sie zum Gespräch gebeten.
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DIE FURCHE: Sie haben philosophisch über Unterscheidungen nachgedacht. Warum?
Josef Mitterer: Es gibt Unterscheidungen zwischen Fakt und Meinung, Tatsache und Interpretation, wahr und falsch. Wir haben uns überlegt, was diesen Unterscheidungen vorausgeht. Unsere Antwort lautet: eine Nicht-Unterscheidung! Wir unterscheiden zwar zwischen wahr und falsch auf Basis der eigenen Auffassungen – aber meine eigenen Auffassungen kann ich eben nicht in wahr und falsch unterscheiden. Ich kann mich irren, aber ich kann kein Beispiel davon angeben, wo ich mich irre – denn sonst würde ich diese irrige Auffassung ja nicht vertreten!
Das Gegenteil von Fake News sind nicht ,wahre Nachrichten‘, sondern aufrichtige Nachrichten.
DIE FURCHE: Was ist denn der Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit?
Katharina Neges: Ich würde versuchen, ohne diese Begriffe auszukommen und stattdessen in Diskussionen zu fragen: „Wodurch bist du bereit, deine Ansicht zu unterstützen? Warum soll ich dir glauben? Wie kommst du zu deinen Schlüssen?“ Es geht um die Rechtfertigung, nicht um eine Übereinstimmung mit vermeintlichen unabhängigen Fakten in der Welt. Und dann geht es im Dialog darum, herauszufinden, ob man wirklich vom Gleichen spricht wie das Gegenüber, ob man von verschiedenen Informationen ausgeht oder verschiedene Vorstellungen von guter Rechtfertigung hat.
Mitterer: Wir müssen uns von Vokabeln wie in Wahrheit, in Wirklichkeit und tatsächlich verabschieden, diese Worte und Ideen sind verbraucht und erschöpft. Wir brauchen ein Vokabular, dass nicht auf die Aufrechterhaltung des Status Quo fixiert ist. Wenn über neue wissenschaftliche Erkenntnisse berichtet wird, liest man in Zeitungen immer wieder Sätze wie „Die Welt ist älter, als gedacht“ oder „Es gibt mehr Pinguine als angenommen“. Wir sind momentan nicht in der Lage, die Änderungen von unseren Auffassungen anders auszudrücken als dadurch, dass wir die alte Meinung personalisieren und die neue de-personalisieren. Das bedeutet: Wir stufen die alte Ansicht zu einer bloß subjektiven Meinung herab und rufen die neue Auffassung als objektives Faktum aus. Die „echte“ Welt ist dann „wirklich“ so, wie ich jetzt sage. Trump sagt immer: I tell it, as it is – „ich sage es, wie es ist“. Er beansprucht für sich die Objektivität. Wenn das stimmt, sind die anderen die Lügner. Wir müssen uns also von diesen Begriffen verabschieden.
Josef Mitterer
ist Universitätsprofessor in Ruhestand am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt.
ist Universitätsprofessor in Ruhestand am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt.
DIE FURCHE: Trump sprach selbst von „Fake News“. Aber: Gibt es „True News“ überhaupt?
Neges: Die Frage ist, ob wir seriöse Nachrichten als Gegensatz zu bloßen Falschnachrichten oder zu bewussten Fake News setzen. Es geht dabei nicht so sehr um die inhaltliche Frage, ob das wohl stimmt, was gesagt wird. Seriöse Nachrichten unterscheiden sich von Fake News vielmehr durch die journalistische Integrität in der Arbeitsweise. Der Unterschied ist, dass seriöse Journalistinnen und Journalisten zumindest versuchen zu schreiben, wie sie die Welt wahrnehmen. Fake News-Schreiber sind hingegen von anderen Interessen geleitet. Das Gegenteil von Fake News sind also nicht „wahre Nachrichten“, sondern aufrichtige Nachrichten.
Mitterer: Dass seriöse Medien immer knapper bei Kasse sind und Journalistinnen und Journalisten immer weniger Zeit für Recherchen haben, sorgt hier natürlich für Probleme – auch was das Vertrauen in Nachrichten betrifft.
DIE FURCHE: Wenn wir schon über Unterscheidungen sprechen – wie unterscheiden sich Normalität und Abnormalität?
Neges: Es gibt zwei Begriffe von Normalität, die etwas völlig Verschiedenes bedeuten und gleichermaßen häufig verwendet – und auch verwechselt werden. Das eine ist die rein statistische Konzeption: Etwas ist normal, wenn es der Mehrheit entspricht. Ich kann sagen „Es ist normal, mit dem Auto zu schnell zu fahren“, weil das in Österreich alltäglich ist. Ich kann „normal“ aber auch in einem normativen Sinne verwenden. Der – moralischen – Norm entsprechend. Das ist etwas, das ich für gut und richtig halte. Das Gegenteil ist dann „nicht normal“ oder sogar „abnormal“, und wir klassifizieren es als etwas, das nicht so ist, wie es sein soll. Diese Begriffe zu vermischen, sorgt für viel Verwirrung, es besteht im Diskurs ein großer Unterschied zwischen einer rein statistischen Analyse und einem normativen Urteil. Leider fällt uns das nicht immer auf, oder es wird bewusst mit der Ambivalenz gespielt.
Katharina Neges
ist Philosophin und leitende Wissenschafterin an der TU Graz und der Kunstuni Graz.
ist Philosophin und leitende Wissenschafterin an der TU Graz und der Kunstuni Graz.
DIE FURCHE: Die statistische Normalität ändert sich ständig. Wie sieht es mit der normativen aus? Vor einigen Jahrzehnten war beispielsweise Homosexualität noch unter Strafe gestellt. Können wir heute behaupten, die damalige Auffassung, die wir heute homophob nennen würden, war „nicht normal“ und moralisch falsch?
Neges: Selbstverständlich würde ich viele frühere moralische Normen aus heutiger Sicht für unmoralisch halten. Beispielsweise wie einst mit Homosexuellen umgegangen wurde. Aber in solchen Fragen würde ich mich nicht auf eine von mir unabhängige, vielleicht gottgegebene moralische Norm beziehen, sondern aus meiner persönlichen, heutigen Sichtweise urteilen. Mein Argument gegen Homophobie kann sich nicht auf eine objektive moralische Ordnung beziehen, über die andere Menschen andere Ansichten haben. Ich kann nur argumentieren: Ich finde, so sollte die Menschheit nicht mit Menschen umgehen.
Mitterer: Wir können alte Ansichten natürlich aus der Zeit heraus verstehen, im Sinne einer Hermeneutik. Aber das ist keine Rechtfertigung.
DIE FURCHE: Welchen Einfluss haben unsere Unterscheidungen auf unser Denken?
Mitterer: Unser Vokabular prägt uns sehr, es gibt gewisse Unterscheidungen, in die wir hineinsozialisiert sind. Philosophen müssen ihre neue Philosophie mit den bestehenden Begriffen der anderen formulieren.
Neges: Philosophie ist Arbeit am Begriff. In Diskussionen kann es uns weiterbringen, die Komplexität zu erhöhen, indem wir Begriffe in ihrer Breite aufschlüsseln, statt nur A oder Nicht-A zu sehen. Vielleicht gibt es in der gegebenen Frage mehr als schwarz und weiß, sondern viele Graustufen. Die binären Unterscheidungen wie normal und nicht normal tragen gar nicht zu einer Vereinfachung bei; sie verwischen eher, was die Menschen darunter verstehen, wenn sie solche Wörter verwenden.
DIE FURCHE: Wie sollen Liberale mit illiberalen Menschen umgehen? Toleranz gegenüber der Intoleranz?
Neges: Das ist eine schwierige Frage. Wir können nicht einfach auf den gegenseitigen Respekt als Grundspielregel hinweisen, denn auch der ist schon eine moralische Überzeugung, für die man erst argumentieren muss – und die manche Leute ablehnen. Es ist leicht gesagt, man müsse Dissens aushalten. Aber wenn ich mich von jemandem in meiner persönlichen oder sogar körperlichen Integrität verletzt fühle, kann das auch keine Lösung sein.
Mitterer: Möglicherweise kann der Liberale mit Menschen Gespräche führen, die noch nicht so gefestigte gegenteilige Auffassungen haben. So kann man zu einem langsamen Stimmungsumschwung beitragen. Es wird aber immer Leute geben, die so verstockt sind, dass sie gar kein Gespräch führen wollen.
DIE FURCHE: Wie können wir letztlich versöhnliche Diskurse führen?
Mitterer: Wir müssen versuchen, die gemeinsame Basis zu finden. Ich habe im Bundespräsidentenwahlkampf 2016 einen Artikel pro Van der Bellen und kontra Hofer geschrieben. Da kamen viele böse Briefe. Bei einem Brief habe ich am Absender erkannt: Das ist ein Tiroler. Ich habe ihm eine Antwort geschrieben und begonnen mit „Lieber Landsmann! Treffen wir uns auf einen Kaffee in Innsbruck!“ Da ist er fast dahingeschmolzen! Ich kann mit jemandem über LGBTQ-Rechte streiten, aber wir trinken vielleicht beide gern ein gut gezapftes Bier. Es geht also darum, Gemeinsamkeiten herauszustreichen und Aggressionen abzubauen.
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