die furche: Allerorts ist von der Notwendigkeit einer "Bildungsoffensive" die Rede, von Ministerin Elisabeth Gehrer angefangen bis hin zu Englands Tony Blair oder dem deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau. Meinen alle dasselbe, wenn sie diese Forderung erheben?
Professor Heinrich Schneider: Sicher nicht. Mit dem Wort Bildung werden ganz unterschiedliche Vorstellungen verbunden. Geprägt worden ist der Begriff von Meister Eckhart, dem mittelalterlichen Mystiker. Im Anschluss an die Bibelaussage, der Mensch sei nach Gottes Bild geformt - Gott ist für Christen "die Liebe" - ist dann die "Bildung des Menschen" die Verähnlichung mit Gott. Die Bildungsphilosophen der Neuzeit sehen das nicht mehr so religiös: für Humboldt ist Bildung zum Beispiel die Entfaltung aller menschlichen Kräfte zu einem geglückten Ganzen.
Wenn hingegen heute Bildungsoffensiven gefordert werden, dann sind meist Anstrengungen zu einer besseren Ausbildung gemeint. Es geht um Leistungsfähigkeiten, die es der eigenen Gesellschaft ermöglichen, im globalisierten Wettbewerb zu bestehen. Manche Pädagogen haben "Ausbildung" und "Bildung" einander geradezu entgegengesetzt.
die furche: Stimmt diese Gegenüberstellung nicht mehr?
Schneider: Nicht so ganz. Zwar stimmt es, dass Politiker darüber besorgt sind, dass in anderen Weltgegenden nun auch hochqualifizierte Fachkräfte zu haben sind, und noch dazu auf einem weitaus niedrigeren Lohnniveau. Da muss man alles tun, um mithalten zu können. Aber in der heutigen Welt geht es auch darum, immer kompliziertere Problemzusammenhänge zu begreifen und lösen zu können. Da ist nicht mehr nur eine hochspezialisierte Fachausbildung gefragt. Wer gelernt hat, mit Problemen unterschiedlichster Art etwas anzufangen, aufs Wesentliche und auch auf Lösungsideen zu kommen, hat Berufschancen ganz eigener Art. Früher galt zum Beispiel Philosophie als die brotloseste aller Künste, heute gibt es bereits gutverdienende freiberufliche Philosophen als Problemanalytiker. Kunsthistoriker können heute unter Hunderten von Bewerbern um eine Führungsposition die Qualifiziertesten sein, weil sie bestimmte Formen der Problemanalyse gelernt haben. Das heißt: die simple und schroffe Gegenüberstellung von "Bildung" und "Ausbildung" im Sinne von "nutzlos, aber geistig bereichernd" und "nützlich, aber fachidiotisch" andererseits gilt nicht mehr.
Sicher hängt das mit den immer komplizierter werdenden Strukturen zusammen - nicht nur in der Technik, sondern auch in Gesellschaft, Politik und in der Verknüpfung von Natur und Menschenwerk. Man könnte sogar fast sagen, dass heute auch eine über den kalkulierenden und konstruierenden Verstand hinausreichende Sensibilität nötig ist, ein geistiges Gespür, eine intuitive Fantasie.
die Furche: Aber ist die humanistische Bildung nicht im Grunde doch überholt? Wozu soll man wirklich noch Platon im griechischen Urtext lesen?
Schneider: Sicher werden die alten Sprachen nicht mehr so häufig unterrichtet werden wie damals, als Medienkunde, Biochemie oder der Gebrauch des Internets noch nicht zur qualifizierten Allgemeinbildung gehörten. Aber das, worauf es den alten Bildungstheoretikern in der Hauptsache ankam, wird in Zukunft vielleicht sogar noch wichtiger als früher. Wenn zum Beispiel "Politische Bildung" gefordert wird, dann heißt das ja nicht, zu wissen, wieviele Abgeordnete im Parlament sitzen. Gefragt ist Urteilskraft. In der Politik geht es letztlich darum, wie Gesellschaft und Staat beschaffen sein sollen, damit die Menschen in Freiheit und Solidarität menschenwürdig leben können. Das sind keine technischen Probleme. Um sie zu begreifen, muss man einen Begriff davon haben, was der Mensch ist, was seine Lebenswirklichkeit bestimmt und bestimmen sollte. Man muss zugleich durchschauen, wie leicht man bei der Beschäftigung damit Ideologien und eigenen Vorurteilen auf den Leim geht.
Die Furche: Klingt nach Philosophie. Aus allen Menschen Philosophen zu machen, dürfte schwer sein.
Schneider: Neuerdings gibt es ja sogar schon "Kinderphilosophie" als Forschungsfeld und als pädagogische Aufgabe. In einer Zeit, in der Orientierungskrisen Hochkonjunktur haben und die Sensationen und Erlebnisreize Trumpf sind, wäre es umso wichtiger, Menschen zu helfen, ihren inneren Kompass zu sensibilisieren und zu kräftigen. Aber das geschieht ja bekanntlich nicht in geistiger Nabelbeschau, sondern in der produktiven Begegnung mit Beispielen, mit vorbildlichen und abschreckenden, mit Erfahrungsberichten, die die Fähigkeit zu eigener Erfahrung fördern - mit Bildern, mit Dichtung, mit der Geschichte.
Das alles meint "Bildung".
Das Gespräch
führte Elfi Thiemer.
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