Programmierte Sprachlosigkeit

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Laut PISA-Studie können vierzehn Prozent der österreichischen Schüler selbst einfachste Texte nicht verstehen. Ist die zunehmende Digitalisierung des (Schul-)Alltags mitschuld an diesem Dilemma?

Ich bin online, also lerne ich", so lautet die schlichte Botschaft, die in zahllosen Medienbildern immer wieder aufs Neue verbreitet wird. Ob oder was Kinder und Jugendliche im Umgang mit dem Computer, mit CD-ROM und Internet tatsächlich lernen, darüber ist noch wenig bekannt. Umstritten sind vor allem die Folgen für die Sprache, das Leseverhalten und die Schriftentwicklung - auch in den Kreisen von Experten ist man sich uneins in der Frage, ob der Bildschirm sprachliche Fähigkeiten bei Kindern hemmt oder ob er sie im Gegenteil mit seinen interaktiven Angeboten sogar anregt.

Für Clifford Stoll, einen der schärfsten Kritiker der zunehmenden Verkabelung der Klassenzimmer, ist die Entwicklung eindeutig: "Es wird eine Generation gut funktionierender Legastheniker kommen, für die ein Buch nichts anderes ist als Druckerschwärze auf eingetrocknetem Holzbrei", prognostiziert er in seiner High-Tech-Ketzerei "LogOut", nachdem er sich in den USA unter Lehrern umgehört hat.

Tatsächlich ist es noch gar nicht lange her, als der Untergang des gedruckten Buches bereits als beschlossene Sache galt, um der Euphorie über die E-Books Platz zu machen. Experten hatten schon das Ende des herkömmlichen Buchdrucks kommen sehen. Doch bei großen Verlagen macht sich Pessimismus breit. Erst kürzlich schloss der Medienriese AOL-Time Warner seine E-Book-Abteilung. Auch im deutschen Sprachraum regen sich vermehrt die kritischen Stimmen gegen die PC-Sprach-Euphoriker. Die Hoffnung, von den E-Books würde ein entscheidender Motivationsschub für das schulische Lernen ausgehen, scheint eben so verflogen wie jene, das Internet werde zur neuen Lese-Förderecke der Kinder. Eher scheint das Gegenteil richtig: Kleinkinder können in der Sprachentwicklung gestört werden, weshalb der Augsburger Pädagoge Werner Glogauer dafür plädiert, sie vom Bildschirm möglichst fernzuhalten. Der PC fördere weder die Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit, noch diene er der psychomotorischen und geistigen Entwicklung.

Vielmehr, so Glogauer, beschleunigt der zunehmende Einsatz des Computers schon im Kindergarten eine andere Entwicklung: Kinder sind in der Schule nicht mehr sprachfähig. Ihr Wortschatz ist unterentwickelt, die verbale Kommunikationsfähigkeit schwach ausgeprägt. Für die Sprachfähigkeit spielt die Zuwendung der Eltern und deren Sprachkultur eine entscheidende Rolle. Durch den Computereinsatz in Kindergärten und Horten ist die Sprachlosigkeit der Kinder vorprogrammiert. Dies bestätigt sich in den Untersuchungsergebnissen der amerikanischen Wissenschafterin Patricia Greenfield. Anhand von Tests bei Computerkids hat sie festgestellt, dass sich deren abstraktes räumliches Denken zunehmend verbessert, ihre Sprachkompetenz hingegen insgesamt nachgelassen hat.

Zudem ist zu beobachten, dass sich in der Chat- und E-Mail-Kommunikation eine Kultur geschriebener Mündlichkeit entwickelt, die auf traditionelle Schreibnormen bewusst verzichtet. Kinder und Jugendliche passen sich dem spontanen Wortwechsel an, sie schreiben zunehmend so, wie sie sprechen: eine Mischung von Mundart, Umgangs- und Jugendsprache - und das ganze meist nicht in Deutsch, sondern in einer Mischform mit Englisch, dem "Denglisch". Maximilian Gottschlich sieht in der Jugendsprache eine starke Tendenz zur Uniformierung und zu einem mit Anglizismen angereicherten technoiden Kauderwelsch. Er meint, die Kommunikation verkomme immer mehr zum "kommunikativen Hinkotzen". Man ist nicht mehr bereit, so Gottschlich, über das, was man sagen möchte, nachzudenken.

Neue Sprachnormen

Wesentlich optimistischer sieht Heinrich Löffler, Professor für deutsche Sprachwissenschaft an der Uni Basel, die Entwicklung zum "Netzdeutsch". Aufgrund einer Analyse von SMS-Nachrichten stellt er alles andere als die angebliche "Sprachverarmung" fest. Vielmehr kommt er zum Schluss, "dass SMS einen ganz besonderen Charme haben und ihre Verfasser nicht selten zu einem gewitzten oder gar poetischen Umgang mit der Sprache verführen". Auch der walisische Sprachwissenschafter David Crystal glaubt nicht, dass das Web eine Generation von Analphabeten produziert. Im Gegenteil, die Sprache im Web entwickle sich vielfältig in alle denkbaren Richtungen. Die neuen Kommunikations-Repertoires sieht er als Bestandteil einer Sprachentwicklung, wie sie "in der Geschichte der Menschheit nur selten mit dieser Kraft aufgetaucht ist".

Für die Frage nach den Lernprozessen neuer Medien im Vergleich zu den alten sind auch die Untersuchungen von Forschern der Ohio State University interessant. Sie befassen sich mit den Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung von Texten auf die Verankerung im Gedächtnis des Schülers: Wie ist ein Text besser zu verstehen, wie merkt sich ein Kind einen Text besser - gedruckt oder digital? Das Ergebnis: Gedruckt ist derselbe Text leichter zu verstehen, als wenn er auf dem Bildschirm erscheint. Beiträge in gedruckter Form wurden auch als interessanter und überzeugender empfunden. Die Begründung der Forscher: Die Seharbeit am Bildschirm entspricht nicht den ganzheitlichen visuellen Wahrnehmungsbedürfnissen des Auges. Und Papier eignet sich (zumindest im Augenblick noch) besser zum Lesen als Bildschirme.

Die Wissenschafter warnen vor einer totalen Computerisierung von Schule und Universität, weil beim Lernen am Bildschirm die Psychomotorik unterfordert wird. Es wird immer nur geklickt und nichts geblättert, unterstrichen, oder mit Wörtern am Rand kommentiert. Außerdem fehlt die haptische (greifbare) Dimension des Lernens - besonders bei Kindern in der Grundschule ein gewichtiges Argument. Denn das Schreiben von Hand auf Papier ist im besten Sinn des Wortes einprägsam. Wortgestalten prägen sich während des Bewegungsablaufes der schreibenden Hand in das Gedächtnis ein.

Keine besondere Empfehlung also für das hochgejubelte "Neue Lernen", keine Empfehlung für die Vielzahl neuer Lern-CDs, die mit großen Versprechungen vom leichten Lernen schon den Bereich der Grundschule überschwemmen und in denen viele Verlage einen neuen Markt sehen.

Aus kinderpsychologischer Erfahrung ist diese Beurteilung nur zu teilen: Lernprogramme auf CD-Roms oder Disketten sind vielfach nichts anderes als eine Fortsetzung des guten alten Schulbuchs, nur animierter und bunter. Zudem nervt ein Großteil der vorhandenen Lernsoftware. In "Vokabeltrainern" mit Piep-Signalen oder Rechtschreib-Programmen, die als Detektivspiel aufgebaut sind, ist das Lernen vielfach ein rein außengesteuertes Konditionierungslernen. Was unter dem Titel Motivation verkauft wird, ist nichts anderes als die permanente Gängelung des Lernenden durch externes Lob mittels Punkten, Applaus oder sonstigen Geräuschen.

Das mediale Edutainment scheint von der (irrigen) Vorstellung getrieben, Kinder könnten nur durch grelles Medienspektakel zum Lernen gebracht werden. In der Folge geht der Aufmerksamkeitsfluss des Kindes permanent nach außen, während konventionelles Lernen mit Schreiben, Lesen und Üben die Aufmerksamkeit nach innen verlangt und trainiert. Medienlernen ist weitgehend typisches Kurzziellernen mit nur geringen selbstreflexiven und selbststrukturierenden Anteilen. Zudem haben derartige Lernprogramme eine einseitige Gewichtung über den Bild- und Tonkanal. "Beim E-Learning", kritisiert Hendrick Kafsack treffend, macht der Lernende nicht mehr, als passiv wie in einem "animierten Fahrstuhl durch das Lerngebäude zu fahren".

Dagegen haben Printmedien für den lernenden Schüler den Vorteil der handfesten Greifbarkeit, der Übersichtlichkeit und der besseren Transportierbarkeit. Längere Stoff- und Texteinheiten sind permanent örtlich positioniert, was dem Lernen über den optischen Kanal sehr entgegenkommt. Das einfache Handling etwa durch Vor- und Zurückblättern erleichtert die Navigation.

Gänzlich anders verläuft dagegen der Leseprozess bei der Bildschirmlektüre in der nichtlinearen Struktur des Hypertext im Internet. Das Lesen folgt keinen Seitenzahlen, sondern Wörtern, die man anklickt. Man liest Texthäppchen und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Papiertexte dagegen geizen mit schnellen Antworten, führen einen aber Schritt für Schritt ans Ziel. Der Internetberater Oliver Reichenstein meint, dass das streng lineare Lesen unser Denken zu Konzentration, Schärfe und Konsequenz erzieht, während der Hypertext diesen Prozess durch zielloses Datensammeln ablöst.

Das alles muss aber noch nicht heißen, dass Kinder heute schlechter lesen, sagt Gerhard Falschlehner, der Geschäftsführer des Österreichischen Buchklubs der Jugend. Die Kinder lesen nur anders, sie haben ihre Lesekultur der Herausforderung von Internet & Co angepasst: Das klassische, lineare Lesen - von links oben nach rechts unten - hat dem so genannten "Multiskating" Platz gemacht, bei dem es auf die schnelle, gleichzeitige Erfassung von Bild, Text und Geräuschen ankommt, wie man es etwa auch beim Lesen von Webseiten braucht.

Buch ist unverzichtbar

Eine der wenigen empirischen Studien zum Einfluss des Computers auf die Lesefähigkeiten und Lesegewohnheiten von Kindern ist unter der Leitung von Andrea Bertschi-Kaufmann an der Höheren Pädagogischen Lehranstalt des Kantons Aargau entstanden. In 20 Primärschulklassen wurde im Rahmen eines Leseprojektes eine vielseitige Bibliothek eingerichtet und mit multimedialen Angeboten ergänzt. Bei der Auswahl der CD-ROM legte man Wert auf eine Verbindung zum klassischen Buch. Elektronische Versionen von Kinderbuchklassikern, fiktionale Spiele, in welchen das Buch ein wichtiges Inhaltselement ist sowie sachorientierte CD-ROMs, die als Nachschlagwerke dienen, wurden eingesetzt. Beim Vergleich mit Schulklassen mit reinem Buchangebot zeigten sich überraschende Ergebnisse: Das multimediale Zusatzangebot wirkt sich keineswegs negativ auf die Lese- und Schreibfähigkeiten der Kinder aus. Elektronische Medien haben sich als hilfreiche Partner des Buches erwiesen. Ohne das gedruckte Buch können Schüler allerdings weder größere Textmengen bewältigen noch eine umfassende Lesekompetenz aufbauen.

Wenn auch die Ergebnisse der Studie nur mit Vorsicht auf die kindliche Alltagssituation zu übertragen sind, so gilt vermutlich doch, was die Studienautorin zusammenfassend schreibt: "Keine Angst vor dem Computer - aber auch in Zukunft gilt: Ohne Buch geht nichts!"

Der Autor ist Psychologe und Psychotherapeut in Innsbruck.

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