Sex - © Foto: iStock / Martin Wahlborg (Bildbearbeitung: Florian Zwickl)

Sex: Worüber keiner spricht

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Über Sex zu sprechen ist auch heute nicht leicht. Unter dem Deckmantel inszenierter Offenheit verbirgt sich weiter peinliches Schweigen.

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Über Sex zu sprechen ist auch heute nicht leicht. Unter dem Deckmantel inszenierter Offenheit verbirgt sich weiter peinliches Schweigen.

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„Letʼs Talk About Sex“ lautete ein Pop-Song von Salt ’n’ Pepa zum Auftakt der 1990er Jahre. Über Sex reden – das passte gut zum selbstbewussten Auftreten der weiblichen Hip-Hop-Band aus New York, die damals wieder einmal die Pop-Charts eroberte. Es passte aber auch generell zur kulturellen Entwicklung, die allmählich eine „sexualisierte Gesellschaft“ zum Vorschein gebracht hatte: Sexualität wurde zum kommerziellen Gleitmittel der sich formierenden Aufmerksamkeitsökonomie.

Das war nur „natürlich“: Denn aus evolutionärer Sicht sind sexuelle Reize nun einmal dazu da, unter Wesen aus Fleisch und Blut die Aufmerksamkeit zu erregen und das Interesse zu wecken. Aus werbetechnischer Sicht zeigte sich, dass dies für ganz unterschiedliche Waren verkaufsförderlich sein kann: für Unterwäsche ebenso wie für Zeitungen oder Mineralwasser. Doch über Sex zu sprechen fällt auch heute nicht leicht.

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Das weiß Astrid Pfneisl nur zu gut, die neben ihrer Tätigkeit als AHS-Lehrerin seit zehn Jahren als Sexualtherapeutin tätig ist. „Wie Sexualität tatsächlich gelebt wird, darüber gibt es oft gar keinen Austausch“, sagt sie im Gespräch mit der FURCHE. „Auch in Paarbeziehungen wird nur selten darüber gesprochen. Viele Menschen sind mit ihren sexuellen Erfahrungen sehr alleine.“

Dem Alltag entrückt

Die Ursache sieht die Personzentrierte Psychotherapeutin vor allem in den Herkunftsfamilien, in denen das Thema gemieden wurde. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit leiden vor allem Frauen, die auch heute noch Schwierigkeiten haben, zu ihrer Sexualität zu stehen, wie Pfneisl berichtet. Seit Freuds Zeit – der Wiener Nervenarzt bezeichnete die weibliche Sexualität einst als „dunklen Kontinent“ – habe sich zwar viel gebessert. „Doch zu meinen Klientinnen zählen Frauen jeden Alters, die noch nicht wirklich wissen, was überhaupt erregend für sie ist. Sie haben nicht gelernt, einen Zugang zu ihrem Körper zu finden, eben weil ihre Mütter eine ähnliche Geschichte aufweisen“, erzählt die Therapeutin in ihrer Praxis in Wien-Ottakring.

„Das fängt schon auf der Ebene der Begriffe an: So gibt es zwar viele Bezeichnungen für die männlichen Geschlechtsteile, aber nur wenige für die weiblichen.“ Abweichungen von der sogenannten sexuellen Norm sind in letzter Zeit zwar verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getreten. Mit dem Erotikfilm „Fifty Shades of Grey“ (2015) etwa wurde die sexuelle Spielart des BDSM („Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“), heute noch umgangssprachlich als Sadomasochismus bezeichnet, einem Millionenpublikum nähergebracht.

Sexualität wurde zum kommerziellen Gleitmittel der sich formierenden Aufmerksamkeitsökonomie.

Doch Menschen mit abweichenden sexuellen Präferenzen fällt der kommunikative Austausch noch viel schwerer, bemerkt Pfneisl, die in ihrer Praxis zahlreiche BDSM-Klienten betreut. „Viele können in der Therapie erstmals offen über ihre Neigung sprechen. Auch Social-Media-Plattformen können heute eine gewisse Entlastung schaffen, im Sinne von ‚Ich bin nicht alleine damit‘.“ BDSM-Praktizierende seien oft mit dem Vorurteil konfrontiert, dass „etwas mit ihnen nicht stimmt“.

Das aber entspricht nicht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand: Keine Studie hat bisher eine Korrelation von BDSM zum Beispiel mit einem gehäuften Auftreten von Missbrauchserfahrungen oder psychischen Erkrankungen gezeigt. Es scheint, als ob trotz der neuen, medial inszenierten Offenheit gegenüber der Sexualität weiterhin ein tiefes Tabu wirksam ist. Auf existenzieller Ebene mag das mit der Anmutung von Intimität und der Ahnung eines Mysteriums zusammenhängen – und wohl auch mit dem rauschhaften Erleben, das der sexuellen Erfahrung eingeschrieben ist. Denn die Natur hat dafür gesorgt, dass Hormone und Neurotransmitter als körpereigene Drogen fungieren können – deren geballte Freisetzung die Sexualität zu einer lustvollen, berauschenden und belohnenden Angelegenheit macht.

Sexuelle Aktivität ist dem Alltag entrückt; sie führt zu mehr oder weniger „verrückten“ Bewusstseinszuständen. Dort, im Zwielicht von Trieb und Rausch, wird es oft schwierig mit der Sprache. Das merken sogar wortgewandte Literaten, für die das Schreiben über Sex zu einer heiklen Bewährungsprobe werden kann. Oder gestandene Akademiker, die zum Teil das Glatteis unterschätzen, auf das sie sich mit einschlägigen Reflexionen begeben. Dort nämlich herrscht Rutschgefahr.

Zu meinen Klientinnen zählen Frauen jeden Alters, die nicht gelernt haben, einen Zugang zu ihrem Körper zu finden.

Therapeutin Astrid Pfneisl

Das zeigt unter anderem ein Traktat zur „Soziologie des sexuellen Rausches“, dessen Autor hier besser unerwähnt bleiben soll: „Die subjektive Fantasietätigkeit spielt jedenfalls eine große Rolle bei der Ausgestaltung sexueller Aktivitäten, und das, obwohl Sex im idealtypischen Erscheinungsbild ein Duett ist. Genauer betrachtet, lässt sich das erotische Zusammenspiel von Alter und Ego sogar als paradigmatischer Ausdruck sozialen Handelns begreifen. Geht es um Sex in einer nicht nur diskursiven, sondern wahrhaft handgreiflichen Form, so agieren diese beiden über ihre Körper mit- und füreinander.“

Offensichtlich vermag nicht jeder Geisteswissenschaftler die Diskurse rund um den Sex so trittsicher anzugehen wie Michel Foucault, dessen abschließender Band seines großen Projekts „Sexualität und Wahrheit“ letztes Jahr, dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Tod des berühmten Philosophen, erschienen ist. Wohl bei kaum einem anderen Thema korrespondiert aufgeregtes Geschwurbel so sehr mit peinlichem Sprachverlust.

Wer medizinische Datenbanken mit den Begriffen „Sexualität“ und „Tabu“ durchforstet, stößt auf eine Reihe von Aspekten, die nach wie vor zu wenig angesprochen werden: etwa Sexualität im höheren Alter oder bei Jugendlichen mit geistiger Beeinträchtigung, die ähnliche Bedürfnisse wie gleichaltrige Gesunde haben, aber mehr Unterstützung benötigen. Oder bei Patienten mit chronischen Erkrankungen, die aufgrund sexueller Dysfunktionen oft über eingeschränkte Lebensqualität berichten. Bei Brustkrebs etwa kann dies eine Folge der Behandlung sein. Experten empfehlen den behandelnden Ärzten, das Thema unbedingt anzusprechen, damit die Compliance mit der Therapie aufrechtbleibt. Doch vieles deutet darauf hin, dass Sexualität weiterhin ein hartnäckiges Tabu im Gesundheitswesen ist, da sowohl die Betreuungspersonen als auch die Patienten das Thema meist bewusst vermeiden, ermittelte 2019 eine dänische Studie.

Pornos im Internet

Diese Tabuisierung ist auch gesellschaftlich problematisch, denn sie führt dazu, dass andere Instanzen die Aufklärung übernehmen: Die Pornosequenzen im Internet zum Beispiel, die kein realistisches Abbild von Sexualität vermitteln. „In der Pornografie findet sich oft ein Abbild des irrsinnigen Leistungsdrucks, der nun auch in der Sexualität Einzug gehalten hat“, sagt Sexualtherapeutin Pfneisl. „Wir müssen heute eben rundum funktionieren. Das setzt Männer wie Frauen stark unter Druck.“

Generell seien die Pornos mit ihrem Suchtpotenzial ein „Riesenthema“ in ihrer Praxis: „Es kommt immer wieder vor, dass Menschen mit ihrer Sexualität komplett im Internet verschwinden.“ Jugendliche nutzen Internetdienste wie Google oder YouTube heute zunehmend auch dazu, um Antworten auf ihre Fragen zur Sexualität zu erhalten, wie eine deutsche Studie von 2017 zeigt. Doch professionelle Organisationen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sind dort fast unsichtbar. Vielmehr werden andere Anbieter bei den Suchanfragen obenauf gelistet: etwa das „Dr. Sommer“Team des Jugendmagazins Bravo, diverse Online-Foren, Wikipedia oder die beliebten Aufklärungsvideos auf YouTube.

Sexualpädagogik und sexuelle Bildung sind heute wichtiger denn je, ist Pfneisl überzeugt, die an ihrer Schule selbst in diesem Bereich tätig war. „Am Anfang haben die Schüler und Schülerinnen aufgeregt gekichert. Doch bald haben sie gemerkt, dass man ganz normal über das Thema sprechen kann.“ Der Wert solcher Angebote lässt sich übrigens auch mit harten Fakten argumentieren: Aus wissenschaftlicher Sicht tragen diese dazu bei, ungewollte jugendliche Schwangerschaften sowie HIV-Infektionen und andere sexuell übertragbare Krankheiten zu verhindern.

„Let’s Talk About Sex“: Der Songtitel von Salt ʼnʼ Pepa ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht anschlussfähig. Auch in der Paarbeziehung kann es förderlich sein, einen regelmäßigen „Sex-Talk“ zu etablieren, empfiehlt Pfneisl. Ihren Job als AHS-Lehrerin hat sie einstweilen an den Nagel gehängt, um ausschließlich als Sexualtherapeutin arbeiten zu können. Die Nachfrage ist groß.

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