Stille Post: Fünf Briefe zu Weihnachten
An einen Menschen schreiben, was es zu sagen gibt: Die Schriftstellerin Katharina Tiwald hat genau das getan. Ob die Botschaft die Adressaten erreicht, ist irrelevant. Fünf Weihnachtsbriefe als Konfrontation.
An einen Menschen schreiben, was es zu sagen gibt: Die Schriftstellerin Katharina Tiwald hat genau das getan. Ob die Botschaft die Adressaten erreicht, ist irrelevant. Fünf Weihnachtsbriefe als Konfrontation.
Lieber Opa!
Am 23. Dezember wird es genau vier Jahre her sein, dass wir an deinem offenen Grab gestanden sind und hinuntergeschaut haben. Es hat sich angefühlt, als wäre die Zeit gerissen. Als stünde sie still – oder: Ich wünschte mir das, die Zeit am Krawattl packen, am Schlafittchen, an ihrem fliegenden Saum. Sie anhalten. Aber wir müssen weitergehen (ohnehin in deine Richtung). Vielleicht können Tote nur mehr sehen, aber nicht mehr hören? Für diesen Fall möchte ich dir schreiben, dass zu deinem Begräbnis neben der Orgel auch eine Geige gespielt hat und eine Mezzosopranistin Bach sang: „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehen...“
Opa, deine Schwippschwägerin ist übrigens nach wie vor die Sonne, als die ich sie lange schon empfinde. Irgendwann ist dieser Zustand eingetreten, noch deutlicher als in meiner Kindheit. 89 ist sie jetzt, der Arbeit enthoben (obwohl, sie hat sich vor ein paar Wochen, nach pandemisch bedingter Abwesenheit der Putzfrau, Putzfetzen unter die zwei Krücken geklemmt und sich damit durch die Räume geschoben). Und sie strahlt. „Ich hab’ viel Zeit zum Nachdenken“, hat sie mir neulich gesagt, „über die Natur. Wo die Bäche fließen, zum Beispiel, die Pinka, der Zickenbach... Und wie alles zusammenhängt: der Regenwurm, die Spinne ... alles hängt zusammen.“ Immer kommt sie bei meinen Besuchen auf ein Wort, das ihr Lebensmotto zu sein scheint: „Miteinander!“
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