Vergessen, ohne vergessen zu sein

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24 Stunden täglich kümmert sich Gertraud Vasek um ihren dementen Mann. Was pflegende Angehörige leisten - und was ihre Kräfte übersteigt.

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24 Stunden täglich kümmert sich Gertraud Vasek um ihren dementen Mann. Was pflegende Angehörige leisten - und was ihre Kräfte übersteigt.

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Wenn er an der Wand die Bilder von früher betrachtet, dann verändert sich sein Blick: links das Foto, das ihn mit Bundespräsident Rudolf Kirchschläger zeigt; daneben der Schnappschuss mit Heinz Fischer bei einem Empfang in der Wiener Hofburg; und schließlich ganz rechts das Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1967 - er mit prächtigem Backenbart, seine Frau mit hochtoupierter Frisur und zartem Lächeln. "Wenn er diese Fotos anschaut oder wenn ich die Nachrichten einschalte, dann ist er plötzlich voll da", sagt Gertraud Vasek und streicht ihrem "Schnuffi" über die Stirn. "Aber eigentlich weiß ich nicht, was er noch mitbekommt und was nicht."

Es war vor rund zehn Jahren, als sich bei ihrem Mann Hans die ersten Anzeichen zeigten: hier ein Versäumnis, dort eine kleine Überforderung. Anfangs ging der langjährige Mitarbeiter des Bundespressedienstes auch noch ins Büro - bis die Anrufe für ihn immer seltener wurden. Erst drei Jahre später, 2001, wurde Hans Waschek - so seine Namensschreibweise als Journalist - mit der Diagnose konfrontiert: fronto- temporale Demenz. Sein Chef hat die Krankheit seines Mitarbeiters kurz vor der Pensionierung so kommentiert: "Gemerkt haben wir es eh schon länger, aber es wollte halt niemand sagen."

Nichts verstecken

Schweigen und Scham: Diese zwei Zutaten scheinen beim Thema "Demenz" unweigerlich dazuzugehören. Doch Gertraud Vasek will das Unweigerliche nicht akzeptieren. Anders als viele pflegende Angehörige zieht sie sich nicht zurück, sondern sucht den Kontakt und lässt sogar die Medien in ihr kleines Haus im niederösterreichischen Kirchstetten, um vom Leben mit dieser Krankheit zu berichten.

Dass die 63-jährige, quirlige Frau jenen Mann, den sie vor über 40 Jahren geheiratet hat, heute wie ein Baby füttern, waschen und wickeln muss, damit hat sie sich abgefunden. "Weil ich eine soziale Ader habe, verkrafte ich das sicher anders als jemand, der in seinem Leben nur auf, Schickimicki' aus ist", erzählt sie auf der gartenseitigen Terrasse ihres Hauses, unmittelbar neben dem zum "Pflegezimmer" umfunktionierten Wohnzimmer. "Denn eines ist klar: Stolz herzeigen kann ich meinen Mann in der Öffentlichkeit nicht mehr."

Seit fünf Jahren ist der heute 64-Jährige bettlägrig. Frühmorgens wird er von seiner Frau gewaschen, gewickelt, umgelagert und durch eine Magensonde mit 300 Milliliter Flüssignahrung versorgt. Auch der Urinbeutel muss gewechselt und die ausgeschiedene Menge penibel dokumentiert werden. Ist ihr Mann sicher gelagert, bleiben Gertraud Vasek im Anschluss zwei Stunden Zeit, um einzukaufen und Besorgungen zu erledigen. Nach dem "Mittagessen" - wieder Flüssignahrung durch die Magensonde - wird ihr Mann mit dem "Lifter" mobilisiert: Das galgenähnliche Gerät samt Tragetuch hebt ihn von seinem Pflegebett in einen Fauteuil mit Rollen, auf dem ihn seine Frau bei schönem Wetter hinaus auf die Terrasse schiebt. Am Abend wieder das gleiche Spiel: waschen, wickeln, umlagern, füttern. Auch in der Nacht schläft sie auf Stand-by: Bekommt er einen Hustenanfall? Ist es notwendig, Schleim abzusaugen? All das ist für sie Routine geworden. Daneben bleibt aber auch Zeit für Zärtlichkeit. "Durch die ständigen Kontraktionen hat er eine richtige Krallenhand bekommen", erzählt Gertraud Vasek und streichelt "Schnuffi" über den Arm. "Aber wenn er mich spürt, lässt er manchmal locker."

Dass Berührung lebensnotwendig ist, weiß sie intuitiv. Was sonst zu professioneller Pflege gehört, hat sie sich im Rahmen einer einjährigen Ausbildung an einem nahe gelegenen Pflegeheim angeeignet. Während ihr - damals noch mobiler - Mann im Heim betreut wurde, hat seine Frau gelernt, dass bei falscher Lagerung bereits eine kleine rote Druckstelle binnen weniger Stunden zu einer offenen Wunde führen kann.

Nicht zuletzt weiß sie, wo es bei Bedarf Hilfe gibt. Einen Tag pro Woche kommt etwa eine Mitarbeiterin der Caritas-Sozialstation Kirchstetten bei ihr vorbei und übernimmt die Pflege. Ohne sie wäre es unmöglich, nach Wien zu fahren oder sich wieder einmal mit Freunden auszutauschen. 29 Euro pro Stunde kostet eine diplomierte Mitarbeiterin, etwas weniger eine Pflegehelferin. Doch die zierliche Frau weiß, dass sie solche Auszeiten braucht, um nicht völlig auszubrennen: "Diese Leute", sagt sie, "sind reine Engel."

Nichts ohne Frauen

Gertraud Vasek - ein glücklicher Ausnahmefall? "Flexible stundenweise Unterstützung, wie sie in Kirchstetten angeboten wird, ist anderswo nicht möglich", klagt Roswitha Bartsch von der Selbsthilfegruppe "Alzheimer Angehörige Austria". Auch hätten nicht alle Angehörigen die Kraft, nebenher eine Pflegeausbildung zu absolvieren. "Aber auch Angehörige ohne Ausbildung sind nach den vielen Jahren der Betreuung Professionisten für den Fall." Professionisten, ohne die das österreichische Pflegewesen kollabieren würde: 75 bis 80 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen werden schließlich von ihren Angehörigen betreut (siehe Kasten). Es sind vor allem die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter, die diese Arbeit leisten. Um sie aus ihrer oft verspürten Isolation zu holen, hat die Gruppe "Alzheimer Angehörige Austria" ein regelmäßiges "Alzheimer Café" ins Leben gerufen. "Hier bilden sich oft Freundschaften", weiß Roswitha Bartsch, "weil die Frauen offen miteinander reden können."

Auch bei der psychosozialen Angehörigenberatung der Wiener Caritas haben Pflegende die Möglichkeit, sich auszusprechen. Wobei die Belastungen sehr unterschiedlich sind: Während sich etwa Töchter oft zwischen der Pflege der Eltern, der Betreuung eigener Kinder, der Partnerschaft und der eigenen Erwerbstätigkeit aufgerieben fühlen, driften pflegende Ehefrauen oft in die totale Isolation. "Die Belastungsgrenzen werden von diesen Frauen oft massiv überschritten", weiß die Sozialpädagogin Sigrid Boschert. Außerdem würden nur 25 Prozent aller betreuenden Angehörigen überhaupt mobile Dienste in Anspruch nehmen.

Bürokratische Hürden

Gertraud Vasek gehört zu dieser Minderheit. "Mein Vorteil ist sicher, dass ich mich auskenne und in einem optimalen sozialen Umfeld lebe", sagt sie. Regelmäßig kommen etwa ihre drei Söhne zu Besuch und unterstützen sie auch finanziell. Zusammen mit dem Pflegegeld - derzeit 1562,10 Euro monatlich für die (höchste) Pflegestufe 7 - sei die Aufgabe irgendwie zu bewältigen. Mühsam seien eher die bürokratischen Hemmnisse: "Die Spritzen, die ich brauche, sind alle chefarztpflichtig", klagt Vasek. Stundenlang sei sie damit beschäftigt, die entsprechenden Bewilligungen einzuholen. Auch die unterschiedlichen Leistungen der Krankenkassen machen ihr zu schaffen. Doch das alles werde sie gemeinsam mit ihren Söhnen irgendwann in einem Buch thematisieren.

Und sie selbst? Würde sie von ihren Kindern das verlangen, was sie selbst bereit war zu tun? "Nein", antwortet sie nach einem nachdenklichen Blick in den Garten. "Ich würde auch in ein Heim gehen. Aber ich möchte nicht spüren, dass ich abgeschrieben bin."

Nähere Informationen zu "Alzheimer Angehörige Austria" unter

www.alzheimer-selbsthilfe.at

Angehörigentelefon der Caritas Wien jeden Mittwoch von 10 bis 13 Uhr

unter 01/87812-550.

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