Barierrefreiheit Wahl Wahlkabine - © Stadt Wien / Bubu Dujmic

Was eine Wahl wirklich barrierefrei macht

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Noch immer werden Menschen mit Behinderungen von der Politik zu wenig beachtet – und im Wahlprozess selbst ausgegrenzt sowie mangelhaft informiert. Wieso es mehr als nur Rampen bräuchte, um die anstehende Nationalratswahl am 29. September barrierefrei zu gestalten.

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Noch immer werden Menschen mit Behinderungen von der Politik zu wenig beachtet – und im Wahlprozess selbst ausgegrenzt sowie mangelhaft informiert. Wieso es mehr als nur Rampen bräuchte, um die anstehende Nationalratswahl am 29. September barrierefrei zu gestalten.

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„Es gibt Menschen ohne Beine und Arme, die wirft man ins Becken – und wer als Letzter ertrinkt, hat halt gewonnen!” Während Athletinnen und Athleten mit Behinderungen in den vergangenen Wochen bei den 17. Paralympischen Sommerspielen in Paris zur Höchstform aufliefen, fanden sie sich verstärkt als Zielscheibe von derlei tiefen Witzen wieder. Im deutschsprachigen Raum wurde vor allem Comedian Luke Mockridge im Podcast „Die Deutschen“ für Aussagen wie die obige heftig kritisiert. Die Konsequenzen: Sein Management beendete die Zusammenarbeit, der Fernsehsender Sat.1 strich die neue Quizshow „Was ist in der Box?“ mit dem 35-Jährigen aus dem Programm. Seine Tour „Funny Times“ hingegen startet nun verspätet, aber doch; und zwar mit einer ausverkauften Show in Wien.

Barrierefrei ist nicht gleich barrierefrei

Aber auch den Paralympischen Spielen selbst wird Schikane vorgeworfen. Grund ist der offizielle Social-Media-Auftritt: Auf der Kurzvideoplattform TikTok wurden vor allem Clips gepostet, in denen Missgeschicke in verschiedenen Bewerben mit lustigen Audios hinterlegt sind. Knapp 40 Millionen Aufrufe generierte das erfolgreichste dieser Videos. Während viele darin einen Marketing-Erfolg sehen, der die Reichweite der Paralympischen Spiele enorm steigerte, kritisieren andere, man spiele die Fähigkeiten und harte Arbeit der Paralympioniken herunter. Auch Behindertenrechtsaktivisten wie Imani Barbarin meldeten sich zu Wort: „Nachdem ich mir einige Videos des Paralympics-Accounts angesehen habe, kann ich ehrlich sagen: Sie haben keine Stimme – und sie haben keinen Blickwinkel“, so die US-Amerikanerin.

Mit den Paralympics und den Kontroversen rundherum hat das Thema Inklusion in letzter Zeit verstärkt medial und gesellschaftlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Obwohl laut Statistik Austria rund 20 Prozent aller Menschen in Österreich mit einer Behinderung leben, scheint es, als würden Diskussionen über Ableismus – also Diskriminierung von beeinträchtigten Menschen – oft erst dann in der Öffentlichkeit Raum erhalten, wenn es einen aktuellen Anstoß gibt. Anlässlich der anstehenden Nationalratswahl in Österreich stellt sich freilich ganz konkret die Frage: Inwiefern gehen die wahlwerbenden Parteien auf dieses knappe Fünftel der Bevölkerung ein?

Auch in diesem Wahlkampf war Inklusion kein großes Thema, sondern eher eine Randnotiz. Ob es für mehr Aufmerksamkeit ein paar Monate früher einen Skandal gebraucht hätte?

Wer die Wahlprogramme der fünf Parlamentsparteien nach Inklusionsthemen durchsucht, entdeckt viele ähnliche Floskeln: In allen Programmen findet sich beispielsweise der schwammige Begriff der „Selbstbestimmung“ wieder; konkrete Maßnahmen und Schritte, wie diese zu erreichen sei, fehlen jedoch weitgehend. Generell wird Inklusion meist als eigenes kompaktes Nischenthema angeführt, anstatt barrierefreie Ansätze durch das Wahlprogramm zu streuen. Inhaltlich fällt auf, dass Inklusionsthemen durch die Bank im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Forderungen genannt werden; zum Beispiel in Form der Forderung von fairer Integration behinderter Menschen in der Arbeitswelt unter dem Slogan „Lohn statt Taschengeld“.

Aber auch die Programme selbst sind unterschiedlich barrierefrei gestaltet: Während NEOS, Grüne und FPÖ eine zusätzliche Fassung in einfacher Sprache veröffentlicht haben, sucht man eine solche bei ÖVP und SPÖ vergebens. Von den drei vorhandenen Fassungen sind die von NEOS und Grüne immerhin über 20 Seiten lang – bei der FPÖ nur zwei.

Nationalratswahl 2024: Inklusion im Nachsatz

Ein erster Schritt, Menschen mit Behinderungen überhaupt zu erreichen und auch zum Wählen zu animieren, wird hier bereits versäumt. Und das, obwohl der ganze demokratische Prozess rund um die Wahlkabine ohnehin von Hürden gespickt ist: Zwar können Briefwahl oder die fliegende Wahlkommission in Anspruch genommen werden; für Unterstützungserklärungen von neuen Parteien muss man jedoch persönlich beim Gemeindeamt erscheinen. Weiters wurden erst bei der EU-Wahl im vergangenen Juni in Wien entsprechend der Wahlrechtsnovelle von 2023 erstmals alle Wahllokale barrierefrei gestaltet. Mithilfe von Rampen und breiten Wahlkabinen sollte vor allem gehbehinderten Menschen das Wählen ermöglicht werden.

Vielen anderen Bedürfnissen wird jedoch nach wie vor nicht entgegengekommen; so fordern beispielsweise Menschen mit Sehbehinderungen Brailleschrift auf den Wahlbögen. Zwar gibt es Schablonen fürs Ankreuzen, trotzdem sind viele hier oft auf Unterstützung von anderen Personen angewiesen, wodurch das Recht auf Geheimhaltung bei der Wahl eingeschränkt wird.

Es ist die bittere Wahrheit, dass das Thema Inklusion oft im gesellschaftlichen und politischen Diskurs unter den Tisch fällt. Und auch, dass Skandale wie jener um Luke Mockridge und die Paralympischen Spiele nötig sind, um Licht auf die Bedürfnisse einer derart großen Bevölkerungsgruppe zu werfen. Auch in diesem Wahlkampf war Inklusion wieder einmal kein vordergründiges Thema, sondern höchstens eine Randnotiz. Ob es für mehr Aufmerksamkeit schon ein paar Monate früher einen Skandal gebraucht hätte?

Dieser Artikel ist unter dem Titel „Eine Wahl voller Hürden“ am 19. September in der Printausgabe der FURCHE erschienen.

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