1 Grenze, 296.190 Soldaten, 83.339 Flüchtlinge

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Aufgreifen oder Abweisen von Flüchtlingen, lautet der Auftrag für die Soldatinnen und Soldaten an Österreichs Ostgrenze. Und dieser Befehl wird seit 15 Jahren erfolgreich ausgeführt, auch "wenn man schon mit diesen Leuten mitfühlt".

Sepp ist beim Bundesheer, Anfang Juni wurde er in Deutsch-Jahrndorf an der österreichisch-slowakischen Grenze stationiert; in den ersten zwei Wochen seines Einsatzes hat er 40 Kilo Körpergewicht verloren - "das ist normal, der Einsatz an der Grenze ist einfach eine ganz andere Belastung", erklärt sein Kommandant. Schikane beim Bundesheer? Keineswegs, Sepp erhält beste Betreuung und dazu täglich 50 Liter Wasser, sechs Kilo Heu und drei Kilo Getreidemischung - Sepp ist ein Haflinger und gehört zur Tragtierstaffel des Bundesheers in Landeck; jedes Jahr im Sommer werden er und 32 weitere Pferde samt 48 Soldatinnen und Soldaten sechs Wochen von Tirol ins Burgenland überstellt.

"Zur Truppenentlastung", sagt Tragtierstaffel-Kommandant Vizeleutnant Benedikt Reinstadler. Die Pferde schaffen 36 bis 40 Kilometer Patrouillenritt am Tag; eine willkommene Unterstützung für die Soldaten zu Fuß, die somit untertags für die Grenzüberwachung in der Nacht geschont werden können. Eine verstärkte Kontrolle in der Dunkelheit ist auch notwendig, meint Reinstadler: "Die imposante Erscheinung von Pferd und Reiter hat eine enorme Abhaltewirkung." Am Tag sei es deswegen an der grünen Grenze sehr ruhig, erklärt er: "Die meisten illegalen Grenzgänger versuchen jetzt ihr Glück in der Nacht."

Weniger Illegale als früher

In der Kommandozentrale des Assistenzeinsatzes des Bundesheers, in der Eisenstädter Martin-Kaserne zeigen zahlreiche rote und gelbe Fähnchen auf der Landkarte die Aufgriffsorte von illegalen Grenzgängern der letzten Tage: "0607, 1845, 6 Russland", steht auf einem Schild, das auf einen Ort nahe dem Grenzübergang Berg zeigt. Übersetzt bedeuten diese Kürzel: Sechs Flüchtlinge russischer Herkunft am 6. Juli um 18.45 Uhr aufgegriffen. Knapp 300 Personen stellen die Grenzsoldaten derzeit pro Monat. "Das ist nur mehr ein Bruchteil der Aufgriffe von früher", rechnet der Chef des Stabes im Militärkommando Burgenland, Oberstleutnant Gernot Gasser, vor. Warum dieser Rückgang? Die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten werde immer besser, sagt Gasser: "Die Ungarn waren schon immer ganz gut, und die Slowaken strengen sich jetzt mehr an." Aber auch das Verhalten der Schlepper sei heute anders, noch professioneller als früher, relativiert Gasser die Erfolgsmeldungen: "Die Schlepper rüsten technisch und taktisch genauso auf wie wir, und sie betreiben genauso intensive Aufklärung." Und auch bei den Flüchtlingen sieht der Oberstleutnant eine Veränderung: "Die jungen Männer bewegen sich im Gelände wie Soldaten." In Feldern mit hohem Bewuchs sei es deshalb schwierig, "die Bewegungslinien der Illegalen" zu verfolgen.

Kein Schusswaffengebrauch

Zwei Haflinger mit Reitern preschen einen Feldweg daher. Eineinhalb Meter über dem Boden sitzend hat das Duo bestehend aus Herrn Gefreitem und Frau Korporal einen guten Ausblick über die Sonnenblumen- und Kukuruz-Felder. Die Gewehre der beiden hängen nach Cowboy-Manier seitlich an den Sätteln; die Waffen sind ungeladen, die Munition in der Uniform verstaut, erklärt Kommandant Reinstadler: "Damit, wenn ein Pferd durchgeht, nicht eine geladene Waffe allein in der Pampa herumstreunt".

Bei den Aufgriffen und Abweisungen in den letzten 15 Jahre haben Soldaten noch nie von der Schusswaffe gegen illegale Grenzgänger Gebrauch gemacht, auch kein einziger Warnschuss wurde abgegeben: "Die Flüchtlinge sind ganz selten rabiat", sagt Oberstleutnant Gasser: "Die meisten Illegalen kommen ja aus Ländern, wo ein ganz anderes Verhältnis der Bevölkerung zu Polizei und Militär besteht - wenn die eine Uniform sehen, haben sie zuerst einfach nur große Angst."

Eine Grenze, viele Tragödien

Oder "man hört direkt, wie ihnen ein Stein von Herzen fällt", beschreibt Stabswachtmeister Christian Spittaler seine Erlebnisse mit von ihm aufgegriffenen Flüchtlingen. Spittaler steht an der Donau, am anderen Ufer sind die Plattenbauten der Vorstädte von Bratislava zu sehen. Ein Fußweg markiert die Grenze. Auf dem Eisenschild, das nach Österreich schaut, steht: "Achtung Staatsgrenze"; in die Slowakei blickt eine Tafel mit der Aufschrift: Pozor! Státna hranica". Und zwischen diesen beiden Hinweisschildern spielen sich nicht selten Tragödien ab, erzählt Spittaler: Eltern mit Kleinkindern, bei Regen und Kälte unterwegs, total durchnässt, ohne Orientierung irgendwo im Wald; oder Väter, die ihre Familie am Ufer zurücklassen, um allein über die Grenze zu kommen und die Familie später nachholen zu können.

"Diese Bilder fahren einem schon durch und durch", sagt Spittaler, "da fühlt man schon mit diesen Leuten mit." War er, wurde er darauf vorbereitet? "Es gibt eine spezielle Schulung für den Grenzeinsatz, die Kontrolle von Dokumenten, den Umgang mit Illegalen - aber für Antworten auf die emotionale Frage kann man in der Theorie nicht ausgebildet werden." Mehr als 20 Selbstmorde von Soldaten hat es während des Assistenzeinsatzes bisher gegeben. Diese hätten aber nie einen direkten Zusammenhang mit dem Grenzeinsatz gehabt, heißt es aus dem Militärkommando: "Durch die Bewaffnung ist aber einfach die Möglichkeit dazu gegeben."

Auf der slowakischen Seite der Grenze wachsen die Brennnesseln mannshoch, alle paar Dutzend Meter zeigt eine Schneise, dass sich an dieser Stelle einmal Grenzgänger ihren Weg durch das Dickicht gesucht haben. In der Nacht werden sie dabei oft von Wärmebildkameras beobachtet - mit mobilen Nachtsichtgeräten dieser Art sind die Soldaten ausgerüstet, ein Stück weiter hinter der Grenze patrouillieren solcherart ausgestattete Kleinbusse.

Minimale Durchlässigkeit

Obwohl "es nie genug technische Hilfsmittel geben kann", ist Major Gerhard Stipschitz, Kommandant des vergangenen sechswöchigen Turnusses an der Grenze, von der "minimalen Durchlässigkeit für Illegale im Zwischengelände" überzeugt. Die Schwachstellen für einen unerlaubten Übertritt sieht er eher an den offiziellen Grenzübergängen: "An verkehrsreichen Wochenenden ist es dort einfach unmöglich, jedes Auto genau zu kontrollieren."

Am Ende des Weges durch die Brennnesseln ist der Grenzposten "213 Bravo" eingerichtet. Hier macht Rekrut Christof Schober Dienst. Was ist seine Aufgabe? Schober: "Wenn ein Illegaler über die Grenze gekommen ist, muss ich ihn aufgreifen." Und was, wenn der Flüchtling noch wenige Meter vor der Grenze steht? "Dann muss ich den ig durch Zuruf aufhalten, die slowakischen Grenzler werden angefordert und der ig wird abgewiesen." Und was dann? "90 Prozent der abgewiesenen Illegalen kommen wieder, einige schon nach wenigen Stunden." Und wenn sie dann nicht mehr auf Zuruf stehen bleiben und einfach über die Grenze laufen? Schober: "Dann muss ich sie aufgreifen."

Rekrut Schober erzählt dann noch, dass er gerne mit den Fernfahrern an den Grenzstationen plaudert, wenn sie von ihren Fahrten erzählen. Er will beim Bundesheer bleiben und hat sich freiwillig für Auslandseinsätze gemeldet. Warum? Rekrut Christoph Schober, 19 Jahre alt, stationiert am Posten "213 Bravo" an der österreichisch-slowakischen Grenze: "Man lernt hier viel, und was wir hier machen, ist wichtig."

15 Jahre Assistenzeinsatz:

Einen Tag nach dem einstimmigen Ministerratsbeschluss am 4. September 1990 startete das Bundesheer seinen Assistenzeinsatz an der österreichischen Grenze zu Ungarn und der Slowakei. Ursprünglich war der Einsatz auf zehn Wochen befristet; aufgrund der anhaltenden illegalen Grenzübertritte wurde die Assistenz des Bundesheeres für die Grenzpolizei aber vom Ministerrat jeweils um ein Jahr verlängert - bis heute. Derzeit sind entlang der 450 Kilometer langen Grenze rund 2200 Soldaten im Einsatz; insgesamt haben in den letzten 15 Jahren 296.190 Soldaten ihren Dienst an der Grenze versehen. Mit Juni dieses Jahres gab es in dieser Zeit insgesamt 83.339 Aufgriffe illegaler Grenzgänger (siehe Grafik und Kasten Seite 3).

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