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65 Jahre nach Beginn des Nazi-Terrors in Österreich erforschen Schülerinnen und Schüler die Schicksale von Holocaust-Opfern - und schreiben im Projekt "A Letter To The Stars" sogar Geschichte.

Claudio und Armin sind nicht gerade die klassischen Friedhofsgänger. Doch die beiden Burschen, 13 und 14 Jahre alt, sind wild entschlossen: "Wir gehen jetzt zum Zentralfriedhof und suchen das Grab von Hugo Fried. Wir wollen wissen, ob es schön hergerichtet ist und ob da vielleicht eine Gedenktafel steht". Wo die beiden genau suchen sollen, wissen sie noch nicht. Nur das eine: "Wir werden das Grab finden", verkündet Claudio.

Hugo Fried war der Vater des Dichters Erich Fried, nach dem das Realgymnasium der beiden Schüler im neunten Wiener Gemeindebezirk benannt ist. Claudio und Armin erzählen von Frieds Kindheit in Wien-Alsergrund: vom Vater, der sich nicht sicher war, ob Erich überhaupt sein leiblicher Sohn war; von diesem Mann, der brutal zuschlagen konnte, der Erich aber am Ende das Leben rettete und selbst an den Folgen der Folter in Gestapo-Haft starb. Ganz selbstverständlich schildern die beiden das, und auch der Rest der 3A-Klasse scheint aus Erich-Fried-Spezialisten zu bestehen. Schließlich gibt man ja demnächst ein Buch heraus: "Vor der Flucht" heißt es. Es enthält den Erstabdruck des Textes "Eine Kindheit in Wien" und schildert Frieds Erinnerungen an die Jahre 1921 bis 1938. Die Schüler haben den Text bearbeitet. Stolz sind sie auf ihr Werk, und zufrieden mit sich und der Welt.

Schüler als Museumsführer

Und weil sie sowieso schon Experten sind, was die Zeit des Nationalsozialismus betrifft, bieten sie auch Führungen im Sigmund-Freud-Museum an - von Schülern für Schüler. "Die Menschen in den KZ's wollten, dass man sie nicht vergisst", ist sich Isabella (13) sicher. "Wir machen, dass sie's nicht vergessen", ergänzt ihr Klassenkamerad Florian energisch. "Es" - das ist das Grauen des Holocaust. "Sie" - das sind alle Erwachsenen und Schüler, welche die neue Ausstellung des Sigmund-Freud-Museums über die vertriebenen und ermordeten Juden besuchen, die einst im Haus Berggasse 19 gewohnt haben. Auch Freunde Erich Frieds waren darunter. Seine Kindheitserinnerungen werden der Ausstellung daher als poetischer Begleittext beiliegen. "Schüler können Schüler viel leichter erreichen als unsereiner", sagt Wilhelm Urbanek, Geschichte- und Deutschlehrer am Erich-Fried-Realgymnasium. "Schauen Sie ihre Körpersprache an, hören Sie ihre Ausdrücke. Das ist die Rap-Generation. Und nur sie erreicht die Rap-Generation!"

Was Urbanek weiß, der nebenbei noch Leiter des Bezirksmuseums Alsergrund ist, weiß auch die Direktorin des Sigmund-Freud-Museums, Inge Scholz-Strasser. Und so hat sie Urbaneks Schüler zur Kooperation eingeladen: Die Schüler der 3A und 6B erhalten vom Museum biografische Informationen über "Freuds verschwundene Nachbarn" - so der Titel der Ausstellung. Dafür gestalten sie Führungen für Mitschüler. Die Großen aus der 6B haben davon auch schon sehr genaue Vorstellungen. "Wenn man in diesem Haus steht, in dem 85 Menschen vor ihrer Deportation gelebt haben, dann spürt man irgendwie besser, was passiert ist. Diesen Eindruck kann kein Geschichtsbuch vermitteln", meint der 17-jährige Valentin nachdenklich. Was sind so viele Dokumentarfilme über Hitlers Ansprachen im Vergleich zu den persönlichen Gegenständen von Menschen, deren Lebensgeschichte man kennt? "Wir wollen diesen Menschen ihre Würde zurückgeben", sagt Ülkü (17).

So ein Satz verbindet Urbaneks Rap-kids mit den Initiatoren von "A Letter To The Stars", dem größten schulischen Forschungsprojekt zum Thema Zeitgeschichte. Seit dem Startschuss am 22.Jänner diesen Jahres erforschen Schüler und Schülerinnen aus fast 400 Schulen in ganz Österreich die Lebensgeschichten der 80.000 Opfer des Holocaust: Juden, politisch Verfolgte, Roma und Sinti, Behinderte, Homosexuelle, Gläubige. Die jungen Historiker dokumentieren per Fotoapparat die Wohnorte der Opfer. Stöbern in Archiven. Suchen nach Nachkommen, die man befragen kann.

Die Idee zu diesem Projekt stammt von zwei Menschen, die von Berufs wegen viel mit Zeitgeschichte und Recherche zu tun haben: Andreas Kuba, derzeit karenzierter Redakteur von News, und Josef Neumayr, freier Journalist, waren vor einem Jahr mit dem Ergebnis einer fast zehnjährigen intensiven Forschungsarbeit konfrontiert - der Opferliste des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands. Sie enthält fast alle 65.000 Namen und Daten der jüdischen Holocaust-Opfer - von Anna Abel bis Sender Zysmanowicz.

Schicksale statt Zahlen

"Angesichts dieser endlosen Datenkolonnen wuchs das Gefühl: Das kann's doch noch nicht gewesen sein", erzählt Josef Neumayr. Irgendwann kam die Erleuchtung: Warum nicht Schüler und Schülerinnen auf die dürren biografischen Angaben ansetzen und auf diese Art ein Archiv der persönlichen Lebensgeschichten erstellen? Nicht nur die Schüler gewinnen, auch die Republik: Was die Kinder und Jugendlichen herausfinden, soll eines Tages im geplanten "Haus der Geschichte" und/oder im Shoah-Zentrum ausgestellt werden.

Die Idee der beiden Journalisten kam an: Der Bundespräsident übernahm den Ehrenschutz, die Israelitische Kultusgemeinde und die Verbände anderer Opfergruppen sowie das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur tragen das Projekt mit. Derzeit planen Kuba und Neumayr den Höhepunkt ihres "Living Memorial": eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocaust am 5.Mai 2003, dem nationalen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus und dem Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen. Zehntausende Schüler werden am Wiener Heldenplatz 80.000 weiße Luftballons in den Himmel über Wien steigen lassen - einen Luftballon mit einem Brief an den Menschen, den die Nationalsozialisten ermordet und dessen Leben die Schüler erforscht haben. Popstars wie Herbert Grönemeyer und Nena sind eingeladen, auf Videowänden werden Ausschnitte aus Interviews mit Holocaust-Überlebenden gezeigt.

Doch was dank der PR-Maschine zweier Journalisten und einer Eventagentur demnächst im Rampenlicht steht, war für Wilhelm Urbanek und viele seiner Kollegen schon lange Selbstverständlichkeit: die persönliche Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Sie haben sich "A Letter To The Stars" mit seinem Verein "Lernen aus der Zeitgeschichte" angeschlossen und bilden gemeinsam mit Profihistorikern ein Netzwerk an geballtem Wissen um die Vergangenheit. Ein Wissen, das mit viel Mühe erarbeitet wird. Denn vor symbolträchtigen Augenblicken wie 80.000 weißen Luftballons am Wiener Himmel braucht es den Schweiß der Recherche: "Ein 17-jähriger Gymnasiast ist kaum in der Lage, sich ein klares Forschungsziel zu setzen", weiß Urbanek. Da bedarf es der Unterstützung durch die Lehrer.

Elisabeth Fraberger von der Hauptschule St.Andrä-Wördern beispielsweise wählt derzeit die Namen der Holocaust-Opfer aus, deren Schicksal sie ihren Schülern zur Recherche anvertrauen will. Da sie fast alle Zeitzeugen von anderen Projekten persönlich kennt, weiß sie, wo es noch Überlebende gibt. "A Letter To The Stars" findet großen Anklang. Aber das hatte die engagierte Lehrerin auch nicht anders erwartet. "Die Schüler machen immer begeistert mit bei solchen Aktionen. Von wegen faul und konsumverwöhnt!"

Nähere Informationen unter www.lettertothestars.at und (01) 59999-214 bis 217.

Infos zu den Schülerführungen ab Mai im Sigmund-Freud-Museum, Berggasse 19 unter (01) 319 15 96-16.

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