"... aber Hängen ist nicht unmenschlich"

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Auch Japan hat einen Fall "Karla F. Tucker" (Nr. 7/98). Ein Mörder, der in seiner Haft zu Reue und Einsicht kommt, wird - nach fast 30 Jahren Gefängnis - schließlich doch gnadenlos hingerichtet.

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Auch Japan hat einen Fall "Karla F. Tucker" (Nr. 7/98). Ein Mörder, der in seiner Haft zu Reue und Einsicht kommt, wird - nach fast 30 Jahren Gefängnis - schließlich doch gnadenlos hingerichtet.

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Während in den USA die Todesstrafe unter großer Öffentlichkeit vollstreckt wird, verfolgt man in der "japanischen Kultur der Stille" einen Weg strikter Geheimhaltung. Seit 1945 wurden in Japan mehr als 600 Gefangene hingerichtet. Theoretisch sieht das Gesetz die Hinrichtung sechs Monate nach der Verurteilung vor.

Manche Häftlinge müssen jedoch 30 Jahre lang jeden Tag mit ihrer Hinrichtung rechnen. So wie Norio Nagayama, der am 1. August 1997 im Alter von 48 Jahren hingerichtet wurde. Am selben Tag wurden drei weitere Personen, darunter eine Frau, gehängt. In den japanischen Medien entfachte die Hinrichtung Norio Nagayamas heftige Diskussionen über die Todesstrafe. Der Fall habe gezeigt, daß auch ein Mörder in der Haft zu Reue und Einkehr kommen könne.

"Wenn ich Tee trinke - plötzlich fällt mir ein: geht's zum Sterben, wird der Strick mit heißem Wasser weichgemacht."

Das ist einer der Texte aus dem Nachlaß von Norio Nagayama, geschrieben in der Todeszelle einer japanischen Haftanstalt. Daß er durch den Strang sterben würde, wußte Nagayama ebenso, wie er den Abtransport seiner Asche nach der eiligen Verbrennung in einem Tokyoter Hochsicherheitsgefängnis in einem seiner Texte vorweggenommen hatte. Denn die Todesstrafe wird in Japan immer durch Hängen vollstreckt. Artikel 36 der japanischen Verfassung verbietet grausame und inhumane Strafen, Hängen fällt nicht darunter. Gesetzliche Basis für die Todesstrafe in Japan ist das japanische Strafgesetzbuch von 1908.

Was Nagayama bis zuletzt nicht wußte, war der Zeitpunkt seiner Hinrichtung. Er war 19, noch minderjährig, als er Ende 1968 eine Pistole und Munition stahl und auf einem einmonatigen Diebeszug für eine lächerliche Beute vier Menschen erschoß. 1969 wird er inhaftiert. Die Anklage lautet auf vierfachen Mord. Er gesteht.

Extrem lange U-Haft Innerhalb von 48 Stunden nach der Verhaftung muß Anklage erhoben und ein Verfahren eröffnet werden. "Die japanische Philosophie ist es, daß man niemanden bloßstellen möchte" erklärt der Schweizer Jurist und Experte für japanisches Strafrecht, Christian Schwarzenegger, der an der Universität Aichi lehrt. 99% aller, die angeklagt werden, werden denn auch verurteilt. Die Arrestzelle auf der Polizeistation wird zum Gefängnisersatz. "Seit rund 20 Jahren verlangen wir vergeblich die Abschaffung dieses berüchtigten Systems der extrem langen Untersuchungshaft" , erklärt der Tokyoter Anwalt Yuichi Kaido. "Die Polizei kann einen Verdächtigen für jedes Vergehen jeweils 23 Tage lang in Untersuchungshaft halten, ihn verhören und ermitteln". Es gibt Fälle von bis zu einem Jahr Untersuchungshaft auf der Polizeistation. Durch psychischen oder physischen Druck erzwungene Geständnisse seien an der Tagesordnung. Der Kontakt zu einem Anwalt und zur Familie ist während dieser Zeit stark eingeschränkt.

Norio Nagayama beginnt im Gefängnis zu lernen, zu lesen und zu schreiben - Notizen, Gedichte und Romane. 1971 landet er mit den Notizheften "Tränen der Einfalt" einen Bestseller. " Das Autorenhonorar aus seinem ersten Buch ließ er dem Kind eines seiner Opfer zugute kommen", erinnert sich Kazuo Takeda, Mitglied einer Bürgerrechtsgruppe, die Norio Nagayama betreut und bei der Prozeßführung unterstützt. Viele Male besucht Takeda ihn im Gefängnis, zwischen ihnen immer die Glasscheibe im Besuchsraum der Haftanstalt Tokyo. Erlaubt sind 20 Minuten Besuchszeit. "Sein größtes Anliegen war es, allen über seine eigene Herkunft und arme Kindheit zu berichten. Damit die Gesellschaft nie wieder einen Menschen wie ihn hervorbringe".

Nagayama wuchs ohne Vater auf, die Mutter schlug sich mit fünf Kindern als Hausiererin durch, er hatte kaum Schulbildung, wurde Hilfsarbeiter. 1979 wird Norio Nagayama vom Bezirksgericht Tokyo zum Tode verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits seit zehn Jahren in Haft und ein bekannter Autor. Unterstützt von Gegnern der Todesstrafe, Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtsgruppen nimmt er den Instanzenweg. Die Berufung stützt sich auf die Argumentation, daß der Verurteilte zum Zeitpunkt der Morde eine geistige Reife besessen habe, die weit unter der seines eigentlichen Alters von 19 Jahren gelegen sei.

1981 wird das Todesurteil gegen Norio Nagayama von der nächst höheren Instanz in lebenslänglich umgewandelt. Doch nun legt der Staatsanwalt beim Obersten Gerichtshof Berufung ein, der Oberste Gerichtshof annulliert das Urteil, das Verfahren wird neu aufgerollt. 1987 wird abermals die Todesstrafe ausgesprochen und 1990 endgültig bestätigt. "Das Urteil war eine Manifestation für die Aufrechterhaltung der Todesstrafe", interpretiert Anwalt Kaido. Denn es sei äußerst ungewöhnlich, daß der Staatsanwalt gegen die Entscheidung der zweiten Instanz beim Obersten Gerichtshof berufe. Der Hintergrund ist ein politischer: denn der Richter der zweiten Instanz hatte in seiner Urteilsbegründung für eine generelle Abschaffung der Todesstrafe plädiert.

Das japanische Gefängnisgesetz stammt wie das Strafgesetz aus dem Jahr 1908 und bildet die Grundlage für die Situation in den Haftanstalten des Landes. Die japanische Richtervereinigung sowie Menschenrechtsorganisationen haben immer wieder unmenschliche Haftbedingungen angeprangert. So dürften die Gefängnisinsassen abgesehen von kurzen Hofgängen weder einander anschauen noch miteinander sprechen, noch unaufgefordert das Wort an die Wärter richten.

Bei der geringsten Regelübertretung drohe den Gefangenen Einzelhaft, während der sie häufig gezwungen würden, endlose Stunden bewegungslos in einer bestimmten Position zu verharren. Erst vor kurzem wurden in den Gefängnissen im nördlichen Japan Heizungen eingeführt, mit der Begründung, daß das Personal unter den eiskalten japanischen Wintern gelitten habe.

Religiöser Minister Als das Todesurteil gegen Norio Nagayama 1990 seine Gültigkeit erlangt, begann für Japans Todesstrafengegner gerade eine Phase der Hoffnung. Drei Jahre lang fanden keine Hinrichtungen statt. Einer der vier Justizminister dieser Phase war gläubiger Buddhist und aus religiösen Gründen gegen die Todesstrafe.

Rund 50 Organisationen mit mehr als 5.000 Mitgliedern, und auch eine überparteiliche Gruppe von rund 100 Parlamentariern setzen sich in Japan für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Ein wichtiges Argument für die Gegner sind Irrtümer der Justiz. Denn in der Nachkriegszeit gab es in Japan vier Personen, die unschuldig zum Tode verurteilt worden waren. Das berühmteste Beispiel ist Menda Sakae, ein Mann, der 34 Jahre in der Todeszelle saß, ehe sich bei der Wiederaufnahme seines Verfahrens seine Unschuld herausstellte.

Vor einigen Jahren habe er sich mit Alternativen zur Todesstrafe beschäftigt, ließ Ministerpräsident Hashimoto nach den ersten drei Exekutionen seiner Amtszeit im Juli 1997 wissen. Er könne jedoch die Wirksamkeit von Hinrichtungen nicht ausschließen. In ihrer Argumentation für die Todesstrafe beruft sich die Regierung zum einen auf das Strafgesetzbuch, das theoretisch für 18 Straftaten die Todesstrafe vorsieht. In der Praxis wird die Höchststrafe bei Mord, Raubmord, Entführung oder Bombenattentaten verhängt. Zum anderen werden gerne Meinungsumfragen herangezogen, die je nach Zeitpunkt der Befragung eine Zustimmung von rund 70 Prozent signalisieren. Kritiker sprechen von unfairen oder manipulativen Fragestellungen.

"Bald, denk' ich, wird es heißen, Tod. Aber das macht mir keine Angst. Habe ich mich daran gewöhnt? Immer schöner erscheint er mir, der Tod."

Norio Nagayama bereitet sich auf den Tod vor. Seit der Bestätigung seines Urteils muß er nun jeden Tag mit der Hinrichtung rechnen. In der Todeszelle darf Nagayama nur mehr zu seinem Anwalt und zu Familienmitgliedern direkten Kontakt haben, nicht mehr zu Vertretern von Bürger- oder Menschenrechtsgruppen. Und gerade diese, aber auch amnestierte Todeskandidaten berichten über einen Gefängnisalltag in den Todeszellen mit rigiden Sitz- und Schlafvorschriften, ständiger Überwachung durch Videokameras, Verweigerung medizinischer Behandlung, Zensur aller Briefe ...

Und der psychischen Belastung durch die japanische Besonderheit der absoluten Geheimhaltung. Weder Anwälte noch Familien werden über die bevorstehende Exekution informiert.

Der Todeskandidat selbst erfährt erst am Morgen der Hinrichtung über seine Exekution. Die Familienangehörigen erhalten nach der Exekution einen Brief vom Gefängnis, in dem sie aufgefordert werden, die Überreste und Habseligkeiten abzuholen. Jenen, die ins Gefängnis kommen und nach Angehörigen fragen, wird lapidar mitgeteilt: diesen Menschen gibt es nicht mehr. Wie die Reihenfolge der Kandidaten für die Hinrichtungen festgelegt wird, ist unklar. Hingerichtet wird regelmäßig, jedes halbe Jahr.

Totale Geheimhaltung Am 5. Dezember 1997 fordert Amnesty International den japanischen Ministerpräsidenten Hashimoto Ryutaro auf, keine Hinrichtungen durchführen zu lassen und eine öffentliche Erklärung für die Abschaffung der Todesstrafe abzugeben. Gerade die Feiertage zu Jahresende und die Parlamentspause kommen nach den Erfahrungen Amnestys der Geheimhaltungspolitik zugute, da zu dieser Zeit kaum Reaktionen der Öffentlichkeit und des Parlaments zu erwarten sind. Ende Jänner 1998 weist das Tokyoter Höchstgericht die Berufungen zweier Chinesen gegen ihre Todesurteile zurück.

Angesichts der Motive und Grausamkeit der drei vorsätzlichen Morde sei die Todesstrafe unvermeidlich, begründet der vorsitzende Richter.

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