Abschied von der Kontroll-Lust?

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Lust, Kontrolle, Ungehorsam: Diese drei Dimensionen prägen den Umgang mit Sexualität seit jeher. Die aktuelle Ausstellung "Sex in Wien" lenkt den Fokus auf das urbane Milieu. Ergänzende Gedanken -vom Begriff "Unzucht" bis zur Rede über "Pädophilie".

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Lust, Kontrolle, Ungehorsam: Diese drei Dimensionen prägen den Umgang mit Sexualität seit jeher. Die aktuelle Ausstellung "Sex in Wien" lenkt den Fokus auf das urbane Milieu. Ergänzende Gedanken -vom Begriff "Unzucht" bis zur Rede über "Pädophilie".

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Sexuelle Erregung erregt. Die einen lassen sich davon freudig oder peinlich anstecken, die anderen "verschieben" von unten nach oben: Sie empören sich. Dann verschieben sie diesen Kraftzuwachs wieder nach unten und bauen Schranken und Einschränkungen, Gebote, Verbote und hoffen damit auf die rechte Zucht für sich und andere.

"Zucht" symbolisiert nicht nur die Vorstufe zu der Art von Züchtigung, wie sie vor allem Frauen traf, die zu "züchtigen Hausfrauen" herangezüchtet werden sollten. Dieses Wort lässt auch die Folgen der verengt selektiven Übersetzung von Genesis 1,28 ("Seid fruchtbar und mehret euch") in rein quantitativem Sinn erahnen - und liefert damit eine religiöse Begründung für eine Ideologie von Fortpflanzungspflicht.

"Schmutz der Unzucht"

Das Wort "Unzucht" umfasst demgegenüber alle sexuellen Aktivitäten, die nicht zur Fortpflanzung führten; gewaltsame Schwängerung wurde als "Notzucht" verharmlost. Besonders strikt zeigte sich dies in der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus. So schrieb der seinerzeit renommierte Strafrechtsprofessor Wilhelm Sauer 1933, Notzucht

"hinterlässt in ihrer gesunden Lebensäußerung bei dem widerwärtigen Schmutz der Unzuchts-und allgemein der Ausbeuter- und Spannergruppen wenigstens einen Lichtblick in eine gesunde Zukunft". Und: "Der durch solch ein Delikt entstehende Schaden ist oft gering; vielfach wird aus der befürchteten Sozialschädlichkeit deren Gegenteil: Die geschlechtliche Vereinigung junger kraftstrotzender Menschen im heißen Verlangen des Augenblicks nach unmittelbar vorausgegangenem Kampf erzeugt erfahrungsgemäß vielfach gesunde, kräftige Kinder, durch die unser Volkstum wertvoll bereichert wird."

Der aufblühende Wissenschaftszweig Soziologie und hier vor allem die sogenannte Frankfurter Schule lieferte das theoretische Rüstzeug, Machtbestrebungen und Machtmissbrauch zu enttarnen -und wendete dies eben auch hinsichtlich der klandestinen Sexualpolitik an. Man durfte auch wieder die "verbrannten" Schriften jüdischer Autoren lesen - vor allem die von Sigmund Freud und Wilhelm Reich. Letzterer vertrat die Sichtweise, dass mittels einer repressiven -nämlich nur verbietenden -Sexualpädagogik vor allem Angst vor Strafe, Flucht

in stummen Gehorsam und letztlich Krankheit "gezüchtet" würde. Die animierte Leserschaft schloss daraus, dass die Verwerfung von traditionellen Sexualtabus -"Entsublimierung" - logischerweise zur psychosexuellen Gesundheit führen müsse. In dieser sogenannten "Sexuellen Revolution" der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ging es aber nicht um das Ausloten eigener individueller Fixierungen, sondern um den Protest gegen gesetzliche wie auch moralische Schranken. Dazu gehörte vor allem die Distanzierung von den Verteufelungen von Homosexualität als Krankheit, Verbrechen oder Sünde. Zwar war noch nicht die Zeit der Outings gekommen, zwar gab es noch keinen "gay pride", aber die "Anderen" verkniffen sich weitgehend offene Diskriminierung. Erst durch das selbstbewusste Auftreten der Pioniere der österreichischen Schwulenbewegung wie dem Mediziner Reinhardt Brandstätter, dem Skandinavisten Kurt Krickler und dem Architekten Wolfgang Förster schämten sich Bildungsbürger ihrer Ressentiments.

Die schrittweisen Beseitigungen der diskriminierenden Homosexualitätsparagrafen im Strafrecht öffnete aber auch Bestrebungen von Pädophilen um Anerkennung ihrer "sexuellen Orientierung" analog zur Homo-oder Bisexualität. Im Bemühen, die kindliche Sexualität zu fördern anstatt durch Angstmache zu verkrüppeln, sahen viele Erwachsene ihre eigenen sexuellen Empfindungen und Handlungen als Norm an und wollten ihre Kinder möglichst frühzeitig mit dem vertraut machen, was sie selbst als lustvoll bewerteten.

Dunkle Seiten der "Avantgarde"

Ich selbst habe bei Wiener Freunden, die sich der Mühl-Kommune am burgenländischen Friedrichshof anschlossen, erlebt, wie sie, aber auch Otto Mühl, bar jeder professionell absolvierten Selbsterfahrung psychotherapeutische Fachliteratur auf eigene Weise deuteten -durchaus im Bewusstsein, Avantgarde einer besseren Sexualität als der jener Leute zu sein, die sie als Spießer und altmodische Anhänger der Kleinfamilie verachteten. Die Missbrauchsdimension war ihnen nicht bewusst.

Anlesen konnte man sich damals die "neue" Sicht in Illustrierten und Buchveröffentlichungen von Journalisten wie Oswalt Kolle oder dem aus dem angloamerikanischen Sprachraum remigrierten Ernest Borneman. Seine gelegentlichen Auftritte auf universitärem Boden wie auch die Gründung der "Österreichischen Gesellschaft für Sexualforschung" (ÖGS) sowie eifrige Vorsprachen bei sozialistischen Politikern schufen Bornemann einen Nimbus der Unantastbarkeit seiner aus heutiger Sicht problematischen Thesen zur "Förderung" kindlicher Sexualität durch Erwachsene. Zitat: "Ich plädiere nicht für das Recht des Erwachsenen auf Geschlechtsverkehr mit Kindern, ich plädiere für das Recht des Kindes auf Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen!"

Mit Beginn der 1970er Jahre begann sich in Wien freilich auch die unabhängige Frauenbewegung AUF und ebenso der "Arbeitskreis zur Emanzipation der Frau" im Rahmen der Jungen Generation der SPÖ zu organisieren. Ausgangspunkt waren vor allem die sozialen Diskriminierungen auf Grund des Geschlechts -sexuelle Ausbeutungen wurden erst etwa zehn Jahre später offenbart. Wieder waren es autonome Frauen, die sich für den ersten Notruf für vergewaltigte Frauen stark machten. Erst langsam outeten sich Frauen in Psychotherapien, Männer schwiegen noch. Zu unvereinbar schien das "Opfer"-Sein mit dem traditionellen Männerrollenbild, bei dem Männern noch immer (medial) soldatische Härte und Brutalität als solitäres Modell angeboten und daher die "Identifikation mit dem Aggressor" nahegelegt wurde. Die eigene Leiderfahrung wurde abgestritten.

Wie lange es dauerte, bis die Autoritätshörigkeit gegenüber dem "dominanten" Mann erstarb, zeigte sich nicht zuletzt an den von Jahr zu Jahr zunehmenden Beispielen sexueller Übergriffe auf Zöglinge im kirchlichen Bereich. Sie wich der Empörung über das lange Schweigen der Beschuldigten, aber auch die Suche nach "der" Ursache für dieses als "Ausrutscher" gedeutete Fehlverhalten. Noch immer reagieren Medien und deren Rezipientinnen und Rezipienten mit Skandalisierung, wenn sich das sexuelle Interesse von Männern in "gehobenen" Positionen auf Kinder richtet. Die Folgen sind Leugnen, Schutzbehauptungen, Krisen-PR ... aber keine Erklärungen der zu Grunde liegenden Dynamik. Sie ist vielschichtig: Da steht die Suche nach dem Kind, das man selbst einmal war, neben dem "Reinheitskomplex" der Unberührtheit, die Neugier nach dem Besonderen neben der Abgestumpftheit, die immer Extremeres sucht, um noch Erregung zu verspüren.

"Benutzte" Kinder

Was den kirchlichen Bereich betrifft -aber ebenso andere soziale Welten -, so sei freilich betont: Es ist nicht der Zölibat (oder eine unwillige Partnerperson), was den vorgeblichen Triebstau (eine Autosuggestion!) hervorruft; oder der Wahn, alles, was nicht zur Fortpflanzung führt, sei keine Sexualität. Es ist einfach Unwissen und Unwillen, andere Menschen nicht zu "benützen". Mit Pädophilie - der "Liebe" zum Kind -hat das wenig zu tun. Liebe verzichtet, Pädosexualität konsumiert, Pädokriminalität vermarktet.

Zu erkennen, dass Menschen mit gesetzlich ausgestatteter Autorität diese zur eigenen Lust missbrauchen können, macht Angst - vor allem, wenn man die eigene Abhängigkeit in Kindheit und Jugend nicht verleugnet, aber auch nicht die zärtlichen Gefühle, die manfrau gerade für Personen mit Macht entwickeln kann, deren Aufmerksamkeit das Selbstwertgefühl steigert. Es liegt in der Verantwortung des Erwachsenen, Heranwachsende nicht zu schädigen. Von Herzen lieben darf man sie.

Sex in Wien - Lust. Kontrolle. Ungehorsam. Vom 15. September 2016 bis 22. Jänner 2017. Wien Museum, Karlsplatz 8, 1040 Wien. www. wienmuseum.at

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