Flüchtlingslager - © Foto: Alkis Konstantinidis / Reuters / picturedesk.com (Bildbearbeitung: Florian Zwickl)

Adresse: Niemandsland

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Flüchtlingslager sind Parade-Beispiele für Nicht-Heimat. Sie machen deutlich, worum es im Kern beim Begriff „Heimat“ geht: um einen Raum, der Identität sichert und aktiv sein lässt. Ein Essay.

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Flüchtlingslager sind Parade-Beispiele für Nicht-Heimat. Sie machen deutlich, worum es im Kern beim Begriff „Heimat“ geht: um einen Raum, der Identität sichert und aktiv sein lässt. Ein Essay.

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Flucht und Migration gehören zur Geschichte der Menschheit. Zu allen Zeiten mussten oder wollten Menschen ihre Heimat verlassen. Während viele Migrationsprozesse planbar waren und das Ziel oft genug feststand, ist Flucht vor allem durch Unsicherheiten geprägt. Wer flüchtet, weiß oft nicht, wohin es ihn verschlägt. Die Flucht soll vor allem das nackte Leben retten oder von kaum aushaltbaren Lebensbedingungen erlösen. Es ist eine Bewegung, die vor allem von etwas fortführt. Ob die Gründe hierfür Verfolgung oder wirtschaftliche Not sind, ist einerlei. Wer flüchtet, gibt die vertraute Umgebung auf und damit die gewohnten sozialen und kulturellen Beziehungen.

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Für die überwiegende Mehrheit der Flüchtenden endet die erste Phase der Flucht in irgendeinem Lager. Weltweit bestehen aberdutzende davon; neben organisierten zahllose „wilde“ Flüchtlingslager mit teils mehreren Zehntausend Menschen. Das größte Flüchtlingslager in Europa war Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Es hatte sich aus einem kleinen Auffang- lager 2013 mit einer ursprünglichen Kapazität von wenigen Hundert Personen zu einer Institution mit knapp 3000 Plätzen entwickelt, war aber rasch aus allen Nähten geplatzt und zeitweise mit bis zu 20.000 Menschen belegt.

Ganz Lesbos zählt nur etwa 85.000 Einwohner. Solche Lager werden immer als Durchgangsstationen geplant. Und das ist auch stets im Interesse der Geflüchteten: Niemand will dauerhaft in einer solchen Institution verweilen. Doch immer wieder werden sie zu Dauerinstitutionen; am bekanntesten sind die zahllosen Lager palästinensischer Flüchtlinge, die teils bereits 1948 entstanden. Die Geflohenen blieben auf Jahrzehnte (oder sind es immer noch) „Flüchtlinge“, die in Diasporagemeinschaften mit unzureichender Anbindung an die Bevölkerung der Aufnahmeregionen und unvollständiger Autonomie als Gemeinden zusammengeschlossen sind.

Dauer statt Durchgang

Es sind grundsätzlich Orte des Übergangs, ein Niemandsland, in dem niemand heimisch werden kann – so sind sie auch weder gedacht noch geplant. Der Austausch zwischen Geflohenen und Einheimischen ist stark eingeschränkt. Das Leben im Lager erinnert die Bewohner immer daran, dass sie ohne Zuhause sind, und damit auch an das, was sie verlassen mussten. Hier bleibt jeder Flüchtling. Es gibt kaum stabile Verhältnisse jenseits der basalen Lebenssicherung – und manchmal nicht einmal das. Es lässt sich keine Existenz aufbauen, und die Gestaltungsmöglichkeiten der privaten Umgebung beschränken sich bestenfalls auf wenige Quadratmeter.

Dabei ist das menschliche Grundbedürfnis nach einem Zuhause, einer Heimat leicht nachvollziehbar. Während schon eine einfache Schlaf- und Zufluchtsstätte ein Wohnort sein kann, wird es erst zu einem Zuhause, wenn damit auch eine grundsätzliche Lebensqualität verbunden wird; auch wenn sie sich zunächst nur auf die eigenen vier Wände beschränkt. Heimat wird es erst, wenn das alltäglich erlebte Lebensumfeld und die Mitmenschen sich zusammen als Gemeinschaft erleben; einander trotz aller Unterschiede und Konflikte gegenseitig akzeptieren.

Heimat ist niemals an den Geburtsort gebunden, sondern an Gemeinschaften, denen man sich im Alltag zugehörig fühlen kann. Sie ist kein Zustand, sondern ein Prozess.

Jens Jäger

Kulturanthropologisch ist das schon lange bekannt und wurde von Hermann Bausinger und der 2017 verstorbenen Ina- Maria Greverus schon vor Jahrzehnten gut formuliert: Menschen benötigen einen sozio kulturellen Raum, der ihnen mehr als nur ein Mindestmaß an Entfaltung, Sicherheit, Stabilität und Mitbestimmung erlaubt. Das ist niemals an den Geburtsort gebunden, sondern vor allem an Gemeinschaften, denen man sich im Alltag zugehörig fühlen kann. Das ist der Kern von „Heimat“.

Es geht darum, einen Ort zu haben, der materielle und emotionale Bedürfnisse erfüllt sowie Identität sichert. Einen Ort, der aktiv sein lässt und stimuliert. Es ist ein Raum, den sich Menschen aktiv aneignen können, ja müssen. Heimat kann nicht von außen „gemacht“ werden, sondern es gilt, sie individuell zu erwerben und letztlich immer wieder im Alltag neu zu gewinnen oder sich ihrer zu versichern. Das ist niemals konfliktfrei oder ohne Frustration, muss jedoch die Perspektive bergen, Konflikte lösen zu können oder Kompromisse zu erlauben. Heimat ist daher ein andauernder Prozess, kein unveränderlicher Zustand. Heimat ist aber auch ein Sehnsuchtsort, der oftmals mit Kindheitserinnerungen verknüpft wird; mit bestimmten Gerüchen, Geschmäckern, Geräuschen, mit besonderen Landschaften oder Stadtsilhouetten.

Doch Sehnsucht ist nicht gleichbedeutend mit „Heimat“, sondern vielmehr Ausdruck des Wunsches nach selbstverständlicher Zugehörigkeit. Der deutsch-russische Schriftsteller Wladimir Kaminer hat das einmal in einem Vergleich ausgedrückt: Natürlich würde er seine Mutter lieben (und vermissen), aber er würde deswegen nicht immer bei ihr wohnen wollen.

Keine Möglichkeit zu handeln

Er verdeutlicht hier ein Missverständnis, das häufig bei Diskussionen um Heimat auftaucht. Sich heimisch fühlen hängt weniger an emotional wichtigen oder nostalgischen Erinnerungen – so wichtig das für die Persönlichkeit ist –, sondern weit mehr daran, ob man sich am gegenwärtigen Lebensort wohl und sicher fühlt, sich mit ihm identifiziert und dort akzeptiert ist. Es beschreibt ein Geflecht von Beziehungen, welches die Position des Einzelnen in Gruppen und Gesellschaft lokal, regional, national und global verortet. Letztlich ist das ein Grundkonzept moderner Vergesellschaftung und gilt somit für jeden Menschen.

Ankerzentren, Sammelquartiere, Flüchtlings-, Auffang- oder Transitlager (oder wie auch immer diese Orte bezeichnet werden) sind immer Nicht-Heimat, geradezu ihr Gegenteil. Eröffnet sich eine Perspektive, wieder in eine Gemeinschaft eintreten zu können, verlässt jeder diese Orte. Entweder geht es in die alte Heimat zurück, die wieder aufgebaut werden kann – oder an einen Ort, der erneut eigenständiges Handeln ermöglicht und die Integration in eine Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied erlaubt.

An einem Ort heimisch werden betrifft aber nicht allein diejenigen, die dort ankommen. Es betrifft auch die Menschen, die dort schon leben. Zwar ist denkbar, dass Gruppen sich in menschenleeren Gebieten niederlassen, also nicht mit Einheimischen konfrontiert werden; doch ist dieser Fall die Ausnahme und innerhalb Europas beinahe undenkbar. Wenn bei einem Ort, nennen wir ihn „A-Dorf“, eine Flüchtlingsgruppe untergebracht wird, ist das für die Dörfler immer auch eine Herausforderung.

Es bringt vielleicht das soziale Gefüge in Bewegung. Unsicherheit mag entstehen, Fragen nach der Zukunft aufgeworfen werden. Da „Heimat“ ein dauernder Prozess ist, der auch alle in A-Dorf betrifft, werden die Bewohner irgendwie mit der Veränderung umgehen müssen. Auf individueller Ebene mag die Gruppe Flüchtlinge – solange sie als eine Gruppe wahrgenommen wird – tendenziell „fremd“ bleiben. Unter den Bedingungen eines Lebens im Flüchtlingslager bleibt das unverändert. Erst wenn sich die Gruppe für die Dörfler in eine Anzahl Individuen wandelt und auch die Geflüchteten sich weniger als eine Gruppe angesehen fühlen, kann ein Prozess der Beheimatung beginnen. Solche Prozesse dauern, und sie sind niemals leicht, doch erfordern sie weder volle Assimilation der Hinzugekommenen noch Selbstaufgabe der Einheimischen.

Letztlich geht es darum, dass sich jeder hinreichend in seiner/ihrer Individualität akzeptiert fühlen kann, materielle und emotionale Bedürfnisse zu stillen vermag und ein ausreichendes Maß an Handlungsfreiheit erfährt. Das Ziel ist niemals die Gleichheit aller oder die völlige Übereinstimmung von Überzeugungen und Glauben, Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen. Dazu wird Heimat viel zu individuell erfahren.

Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Köln und Leiter des Projekts „Heimat global“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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