Ägypten und sein Scheideweg

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US-Wissenschafter bescheinigen der ägyptischen Wirtschaft ein hohes Potenzial. Allerdings wären dafür durchgreifende Reformen für mehr Demokratie und Rechtsstaat notwendig.

Wenn die Menschheit in Alternativen denken und handeln würde, gäbe es weniger Probleme und viel Erfolg. Dieser Satz des Club of Rome mag banal scheinen, aber er hat es in sich. Dreht man ihn in die Vergangenheit, hat er Potenzial zur Peinlichkeit. Man erinnere sich an Gerhard Berger, den österreichischen Autorennfahrer, der seine zahlreichen Niederlagen stets im Konjunktiv Plusquamperfekt zu rechtfertigen versuchte, etwa so: "Hätte es keine Kollision gegeben, wär ich jetzt der Sieger.“ Berger hatte deshalb zur Niederlage auch noch den Spott und ging als "Hättiwari“ in die Geschichte ein.

Nun gibt es aber Wirtschaftsprognostiker, die dieses "Hättiwari“ in die Zukunft drehen können, daraus sozusagen ein "Würdiwäri“ erschaffen. Mit solchen Aussichten beschäftigt sich das Pardee-Center für Internationale Entwicklung der US-Universität Denver. Besonders für Ägypten und seine Bürger könnte angesichts der gegenwärtigen Unruhen ein Blick auf die Pardee-Studien Trost spenden.

Fulminante Entwicklung

Laut Pardee könnte das Land eine fulminante ökonomische Entwicklung durchlaufen, bliebe es politisch stabil und würde es seine Potenziale voll nutzen. Unter diesen Voraussetzungen, so meinen die Wissenschafter aus Colorado, würde Ägypten bis 2060 sein Bruttoinlandsprodukt versechsfachen können. Pro Kopf würde dann jeder Ägypter 12.721 Dollar im Jahresschnitt erwirtschaften können. Das wäre ein riesiger Schritt aus der Armut. Heute hingegen liegt die Wertschöpfung bei 2.100 Dollar.

Doch die aktuelle politische Situation, die neuerlichen Unruhen nach den Präsidentenwahlen, die massive Unterdrückung von Revolutionsaktivisten durch Polizei und Justiz sprechen deutlich gegen diesen Wirtschaftsaufschwung. Das kann man an den neuesten Daten ablesen, die die ökonomische Lage Ägyptens beschreiben. Das Land musste sich 2011 mit 1,2 Prozent Wachstum zufrieden geben, für 2012 erwarten die Wirtschaftsforscher in Kairo 1,8 oder darunter.

Noch immer müssen mehr als 30 Prozent der Wirtschaftsleistung der Schattenwirtschaft zugerechnet werden. Noch immer fällt einer der wichtigsten Faktoren der Volkswirtschaft, der Tourismus zu großen Teilen aus. Auch 2012 werden im Schnitt um 30 Prozent weniger Ägypten-Urlaube gebucht als vor der Revolution. Das hat dramatische Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit, da 12 Prozent aller ägyptischen Jobs im Tourismus liegen. Das Staatsdefizit wuchs alleine 2011 um mehr als 10,3 Prozent. Doch da der Rest der Wirtschaft nicht funktioniert und mehr 40 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit bleiben, steigt die Armut der Bevölkerung anstatt zu sinken. Laut UNO leben über 20 Prozent aller Ägypter mit weniger als 2 Dollar pro Tag. Der Arbeitsmarkt ist krisenbedingt unfähig, die jährlich 700.000 neuen Arbeitsuchenden mit Jobs zu versorgen. Ein Darlehen des Internationalen Währungsfonds von 3,2 Milliarden-Dollar hat daran kaum etwas geändert.

Das macht die Lage für den kommenden Präsidenten, welchem Lager er auch immer angehört immens schwierig. Egal ob Muslimbruder Mohammed Mursi oder der Anhänger Mubaraks Ahmed Shafik gewinnt: Auf jedem Staatsoberhaupt lastet der Druck der Hoffnung eines Volkes, das ungeduldig die Früchte einer Revolution erwartet, die es selber erst erarbeiten müsste.

Ein Basiserfolg

Dabei ist allein schon die offenbar korrekte Durchführung der Wahlen ein großer Fortschritt gewesen. Nicht zu Unrecht titelte der Londonerr Daily Telegraph: "Ägypter wählen ihre Führer zum ersten Mal in 5000 Jahren.“ Dass viele der Proponenten der Facebook- und Twitter-Revolution ihre Personalwünsche dabei nicht umsetzen konnten, ist nicht verwunderlich.

Schon bei den Parlamentswahlen Anfang des Jahres waren die Liberalen aufgrund mangelnder Organisationskraft von der Muslimbrüderschaft und den Salafisten geschlagen worden. Auch die am Erfolg der Revolte mitbeteiligten Frauen stellen im neuen Parlament bloß 10 von mehr als 500 Abgeordneten.

Trotz allem: Der neue ägyptische Präsident könnte viel erreichen. Allein die Umstrukturierung der Subventionen an Großbetriebe brächte bei einer Umwidmung von Staatsgeldern für Bildung, Infrastruktur und Energie Fortschritte und Wettbewerbschancen. Ägypten pumpt derzeit noch immer 10 Prozent seiner Staatseinnahmen in Stützungen für Großbetriebe, vor allem jene des Militärs.

Politische Stabilität und eine weniger korruptionsanfällige Verwaltung und Justiz könnten vermutlich auch die Auslandsinvestitionen ankurbeln, die derzeit bei 2,2 Milliarden Dollar pro Jahr liegen - ein Minus von 70 Prozent im Vergleich zu 2010.

Das wäre dann auch die Basis von der die Experten des Pardee-Center in ihrem "Würdiwari“-Szenario ausgehen. Die Brandstiftung in den Büros des ehemaligen Mubarak-Manns Shafik zeigt hingegen bloß die Fortsetzung einer Politik, in der aus Chaos nur Chaos entsteht. Das wiederum spricht für die "Hättiwari“-Variante im Jahr 2060.

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