Als die Kollegin aus allen Wolken fiel ...

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Nicht alle Arbeitnehmer in Österreich dürfen als Betriebsrat kandidieren. Ein Unikat in der Europäischen Union.

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Nicht alle Arbeitnehmer in Österreich dürfen als Betriebsrat kandidieren. Ein Unikat in der Europäischen Union.

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Die politische Gleichstellung am Arbeitsplatz ist im europäischen Wirtschaftsraum heute die Regel", wurde beim 13. ÖGB-Bundeskongreß im Oktober 1995 festgestellt. Einstimmig wird "die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen für ausländische Arbeitnehmer bei der Wahrung ihrer beruflichen und betrieblichen Interessen" gefordert.

Caroline Grandperret fiel, wie sie sagt, Ende der achtziger Jahre "aus allen Wolken". Aus Überraschung, daß es "hier solche Bestimmungen gibt". Der Grund der Bestürzung: Grandperret wollte - auf Anraten der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) - als Betriebsrätin kandidieren. Denn die Arbeitssituation in der Wiener Sprachschule, wo sie ihre Muttersprache Französisch lehrte, "war miserabel". 80 Prozent der Arbeitnehmer sind Ausländer. Österreicher wollten nicht, die "anderen" durften nicht kandidieren. Fazit: Es gab keinen Betriebsrat in der Sprachschule und, so Grandperret, "es wird auch keinen geben". Sie ist heute Arbeiterkammer- und Betriebsrätin. Nicht in der Sprachschule, wo ihr ob des Ansinnens der Mitsprache gekündigt wurde, sondern bei der internationalen Firma Peugeot.

Seit Österreichs Beitritt können alle Bürger der Europäischen Union bei Betriebsrats- und Arbeiterkammerwahlen kandidieren. Die rund 247.000 Arbeitnehmer (82,8 Prozent aller ausländischen Beschäftigten in Österreich) aus "Dritt-Staaten" aber genießen -einstweilen - bloß die gleichen Pflichten.

Ein demokratiepolitisches Defizit, meint Rolf Nagel, Betriebsrat bei Siemens-Österreich. Die - 1992 aus der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA) entstandene - Projektgruppe "Sesam Öffne Dich" will, daß alle Arbeitnehmer auch mitbestimmen dürfen. Das passive Wahlrecht für alle, die in Österreich tätig sind, wäre dafür die Grundvoraussetzung.

Es geht um sachliche Lösungen, meint Kurt Linska, Mitarbeiter des ÖGB-Organisationsbüros, nicht um politisch benutzte Emotionen. Sache ist etwa, daß manche Bereiche auf allgemeine Mitbestimmung "nahezu angewiesen sind". "In der Reinigungsbranche etwa werden die wenigen Österreicher sofort ins Management geholt", weiß Linska. Eine Dynamik, mit der auch Rudolf Kaske, Vorsitzender der Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe, Persönlicher Dienst (HGPD) keine "große Freude" hat. Betriebsräte, die zugleich Dienstgeberfunktionen ausüben, kommen dadurch in Interessenkonflikte.

Keine Ermutigung Vergangenen Herbst stellten die Initiative "Sesam Öffne Dich" und Vertreter der HGPD die Broschüre "Meine Rechte im Betrieb" vor. Die von ÖGB und Wiener Integrationsfonds herausgegebene Publikation faßt die bisherigen Erfahrungen zusammen. Sie richtet sich an Zuwanderer und an bereits "eingebürgerte Kollegen, die ebenfalls unterrepräsentiert sind", meint Betriebsrat Rolf Nagel. Geborene Nicht-Österreicher werden kaum zur politischen Teilnahme ermutigt. "Viele fürchten auch", berichtet Nagel aus der Praxis, "keine Kompetenz zu haben, weil sie die Sprache nicht beherrschen."

"Sesam Öffne Dich" will Nicht-EU-Bürger ermutigen, in ihrem Betrieb als Sprecher oder Sicherheitsvertrauensperson zu kandidieren. Beides sei zwar nicht der Demokratie letzter Schluß, meint Nagel, beinhalte aber die Chance, "zumindest vom Betriebsrat eingeladen zu werden". Und vor allem, sich "schon jetzt auf künftige Aufgaben als Interessenvertreter vorzubereiten, bis das passive Wahlrecht für alle Gesetz ist".

In Deutschland ist das passive Wahlrecht für alle Arbeitnehmer seit 1972 gesetzlich verankert. "Allein die Metallindustrie", sagt der deutsche Staatsbürger Rolf Nagel, "hat Hunderte Betriebsräte, die keine EU-Bürger sind". Die Furcht, politische Konflikte von anderswo könnten importiert werden, hat sich als unbegründet erwiesen. Schließlich werden diejenigen gewählt, weiß Nagel, "die konstruktive Politik machen und nicht die, die spalten".

"Wir können auf Menschen nicht verzichten", meint auch der HGPD-Vorsitzende Rudolf Kaske, "die wesentlich zum Erfolg Österreichs beitragen." Immerhin läßt die Regelung, die noch aus der Zeit des Austrofaschismus stammt, ein Zehntel der Werktätigen unberücksichtigt. "Vorwärts, zurück in die Vergangenheit!", ist sein Appell. In der Ersten Republik durfte - auf Beschluß der Nationalversammlung Deutschösterreichs vom 15. Mai 1919 - unabhängig von der Nationalität gewählt werden. 1934 beschränkte der Ständestaat mit seinem "Gesetz über die Errichtung von Werksgemeinschaften" die demokratische Mitbestimmung in den Betrieben. Das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" von 1938 beseitigte sie schließlich ganz.

Im Frühjar 1947 wurde ein neues Arbeitsverfassungsgesetz verabschiedet. Wer auf ein Wiederanknüpfen an die demokratische Tradition der Ersten Republik gehofft hatte, blieb enttäuscht. "Wählbar sind alle wahlberechtigten Dienstnehmer des Betriebes", lautete die Neuordnung, "sofern sie die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen."

Kuriose Ausnahme Kuriose Ausnahme: Bundesbahn und Gemeinde Wien verzichten auf die österreichische Staatsbürgerschaft als Bedingung für eine Kandidatur im Betrieb. Denn, bei Bahn und Gemeinde sind "ohnehin nur" Beamte tätig. Und diese haben ja bekanntlich Österreicher zu sein.

Knifflig könnte die Sache mit der Privatisierung werden. Die Projektgruppe "Sesam Öffne Dich" befürchtet, daß hier zweierlei Recht entsteht. Darf etwa ein Türke, der bei einer österreichischen Privatbahn Fracht verschiebt, gegebenenfalls auch die Interessen der Kollegen vertreten?

Nach geltendem Recht dürfte er dies bereits heute. Laut Assoziationsabkommen der EU mit den Magreb-Staaten, der Türkei und den ehemaligen Ostblockländern sind Staatsbürger dieser Länder (nach einer mindestens vierjährigen Beschäftigung hierzulande) den Österreichern gleichgestellt. Die Hauptwahlkommission der AK-Vorarlberg hat dennoch dem Verlangen der FPÖ-nahen Fraktion stattgegeben: Die Kandidatur von fünf Türken wurde gestrichen.

Egal, unsere polnischen Nachbarinnen putzen ohnehin schwarz.

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