Alter schützt vor Freude nicht

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist nie zu spät. Psychische Probleme können in jedem Alter bewältigt werden. Die Lebenserwartung steigt und damit auch die Nachfrage nach professioneller Hilfe ab 60.

Ich hatte Angst, jahrelang eine schleichende, entsetzliche Angst", erzählt Inge B. von der schlimmsten Zeit ihres Lebens, "ich habe mich nicht mehr alleine auf die Straße getraut." Das Gefühl der Angst steigerte sich bei Inge B. unaufhaltsam und mündete letztendlich in einer Panikattacke. Nach einem Krankenhausaufenthalt suchte Frau B. einen Neurologen auf. Der erkannte jedoch sehr rasch, dass er Frau B. medikamentös nicht helfen konnte. Er riet ihr zu einer Verhaltenstherapie. Damit begann für sie eine völlig neue Erfahrung. Inge B. war damals bereits über 70 Jahre alt.

Entwicklungspotential

Wenn Menschen im fortgeschrittenen Alter, etwa ab dem 60. Lebensjahr, in psychotherapeutische Behandlung gehen, dann spricht man von Gerontopsychotherapie. Siegmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, hatte gemeint, Psychotherapie bei Menschen, die älter als 50 Jahre sind, sei sinnlos. Der Aufwand und die Summe der Erfahrungen sei so gut wie nicht zu bearbeiten. Diese Ansicht vertritt man heute nicht mehr. Das hängt unter anderem mit der gestiegenen Lebenserwartung zusammen. Und man hat erkannt, dass auch in alten Menschen noch Entwicklungspotenzial steckt. Dr. Margret Aull, Psychoanalytikerin aus Innsbruck und Präsidentin des österreichischen Berufsverbandes der Psychotherapeuten, meint: "Unser Verständnis hat sich geändert. Ich kenne keinen, der Gerontopsychotherapie aus fachlicher Überzeugung ablehnt."

Dennoch sind es derzeit noch relativ wenige Psychotherapeuten, die sich auf die Begleitung alter Menschen spezialisiert haben. Das mag unterschiedliche Gründe haben: Wer mit alten Menschen arbeitet, weiß, dass ihre Sinne nachlassen, und sie schon alleine dadurch eine besondere Form der Begleitung brauchen. Darüber hinaus muss der Therapeut viel Ruhe und Geduld mitbringen, denn es dauert länger, bis sie die Fäden ihrer Erinnerungen knüpfen können, als dies bei jungen Menschen der Fall ist. Und wenn es sich um hochbetagte Klienten handelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch vor Beendigung der Therapie sterben, nicht gering. Dr. Christian Neubauer, Psychologe und Psychotherapeut in freier Praxis, meint: "Wer als Gerontopsychotherapeut tätig ist, darf keine Angst vor dem Alter haben!"

Emotionen sind gefragt

Neubauer, damals noch Mitarbeiter in der OÖ. Landesnervenklinik Wagner-Jauregg, war es auch, der Inge B. begleitet hatte. Sie spricht noch heute, Jahre nach Beendigung ihrer Therapie mit Wärme und Hochachtung von ihm: "Ich habe mich vom ersten Augenblick an bei ihm sicher gefühlt. Er war der erste, der mich nicht gefragt hat, wovor ich Angst habe!" Im Gegenteil. Ein Psychotherapeut will ja auch kein Symptom bekämpfen. Er will gemeinsam mit seinem Klienten den Hintergrund ausleuchten, vor dem sich dieses Symptom entwickeln konnte und so zu einer Stärkung der Persönlichkeit beitragen. Dazu ist es notwendig, dass sich der Klient öffnet und aus seinem Leben erzählt. Das fällt erfahrungsgemäß vielen älteren und alten Menschen schwer, vor allem dann, wenn es nicht um Faktenwissen geht, sondern wenn sie nach den Emotionen gefragt werden, die verschiedene Lebensereignisse in ihnen hervorrufen.

Große Veränderungen

In der Phase der therapeutischen Behandlung ist aber auch die Einstellung des Partners und der Familie zu dieser Form der Lebenshilfe wichtig. Denn Psychotherapie führt, wenn sie erfolgreich ist, zu einer Veränderung der Persönlichkeit und zu einer Neuorientierung. Und das ist, wenn auch ursprünglich angestrebt, für das soziale Umfeld nicht immer einfach zu akzeptieren. Wenn ein depressiver alter Mensch wieder aktiv wird, sich am gesellschaftlichen Leben beteiligt, kann das eine enorme Herausforderung für seine Familie darstellen. In den meisten Fällen wird die Veränderung aber willkommen geheißen: "Was haben Sie mit meinem Mann gemacht, der ist ja ganz anders!" War der Kommentar einer Frau, deren Mann nach einem Schlaganfall mit seinem Leben beinahe abgeschlossen hatte und unter Depressionen litt.

Zwänge, Ängste, Panik, wie im Falle von Inge B., aber auch Depressionen lassen zu psychotherapeutischer Begleitung im Alter raten. Gerade Depression ist eine noch immer unterschätzte Krankheit und wird bei alten Menschen oftmals als beginnende Demenz gedeutet. Gerade der letzte Lebensabschnitt hat viele emotionale Tücken: Die Menschen ziehen Lebensbilanz, sie müssen Verluste wie den Tod des Partners verarbeiten, oftmals steht der Weg ins Seniorenheim an, etwas, das bei vielen Endzeitstimmung aufkommen lässt.

Idealerweise sind Klienten, die sich in psychotherapeutische Begleitung begeben, Personen, die zu Eigenreflexion und sprachlicher Kommunikation fähig sind. Prinzipiell ist aber auch eine Arbeit mit schwer dementen Menschen möglich. Ob es sich dabei tatsächlich um Psychotherapie und nicht eher um eine Form von soziotherapeutischer Begleitung handelt, darf durchaus diskutiert werden. Wie man es auch nennen mag, entscheidend ist die Wirkung, wenn sie zum Ausgleich des Klienten und zur Entlastung der betreuenden Angehörigen beiträgt.

Viele alte Menschen blicken mit Bitterkeit auf ihr Leben zurück. "Wenn ich noch einmal jung wäre, würde ich vieles anders machen!", sind viel zitierte Worte. Das ist nicht möglich. Es besteht aber die Chance, die Vergangenheit zu bearbeiten und den letzten Lebensabschnitt in Frieden zu beschließen.

Nach dem Tod ihres Mannes lebt Frau Inge B. heute alleine in ihrer Wohnung. Den Abschied von ihrem Partner, die Zeit ohne ihn, hätte sie ohne die vorangegangene gerontopsychotherapeutische Begleitung wohl kaum bewältigen können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung