"Am Anfang nehmen es Angehörige oft persönlich"

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Der Umgang mit Demenzkranken ist nicht einfach. Aggressives Verhalten der Patienten ist eine zusätzliche Belastung für pflegende Kinder und Partner.

Seit 25 Jahren beschäftigt sich die Allgemeinmedizinerin und Gestalttherapeutin Helga Müller-Finger mit demenzkranken Menschen. Sie plädiert für einen achtsamen und verständnisvollen Umgang mit diesen besonderen Menschen.

Die Furche: "Alt, verwirrt, aggressiv - was nun?" war das Thema Ihres Workshops beim Familienforum in Strobl. Viele pflegende Angehörige bemerken, dass deren demenzkranke Eltern und Partner aggressiv und vermeintlich böse werden. Können Sie diesen Eindruck bestätigen?

Helga Müller-Finger: Nun ja: Es kommt neben dem Abbau kognitiver Fähigkeiten auch zu Verhaltensauffälligkeiten, das ist richtig. Eine der Verhaltensauffälligkeiten ist die Aggression, obwohl ich das Wort in diesem Zusammenhang nicht so gerne mag. Aggression heißt ja, auf jemanden aktiv zugehen. Ich bevorzuge den Begriff der "gestörten Impulskontrolle", denn ein Mensch, der verwirrt und desorientiert ist, dessen Urteilsfähigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit nachlässt, der nicht mehr weiß wie er heißt, ist eben nicht aggressiv im Sinne des aktiv auf jemand Zugehens. Das Problem ist, dass diese Menschen oft Angst haben, weswegen sie dann so reagieren.

Die Furche: Pflegende Angehörige fühlen sich dann oft hilflos und ohnmächtig. Was kann man ihnen raten?

Müller-Finger: Wichtig ist, dass man die Umwelt so gestaltet, dass sie auf die Lebenswelt und Bedürfnisse der Kranken abgestimmt ist. Durch gute Betreuung, durch Zuwendung und Hinwendung beruhigen sich diese Menschen oft wieder.

Demenz ist als Begriff recht problematisch: Es heißt: weg, ohne Verstand. Diese Menschen verlieren wohl ihre kognitiven Fähigkeiten, also die höheren Hirnleistungen, aber sie haben nach wie vorher Emotionen, sie sind bis zuletzt Menschen mit Bedürfnissen. Und sie haben eine große Wahrhaftigkeit, was mich immer fasziniert. Wenn wir achtsam und einfühlsam umgehen mit diesen Menschen, dann beruhigen sie sich, dann ist viel möglich. Das zeigt auch die von Naomi Feil entwickelte Methode der Validation sehr deutlich (siehe Kasten unten).

Die Furche: Wie geht es den Angehörigen damit, dass ihre erkrankten Eltern, Ehepartner oder Geschwister aggressives Verhalten an den Tag legen?

Müller-Finger: Es ist sehr wichtig, dass man Angehörige unterstützt. Sie brauchen Information und müssen wissen, was die Symptome der Erkrankung sind und dass diese Verhaltensauffälligkeiten zum Krankheitsbild gehören. Gerade am Anfang nehmen das die Angehörigen oft sehr persönlich. Daher muss man sie schulen, man muss ihnen beibringen, wie man mit diesen Verhaltensauffälligkeiten umgehen kann - und sie dabei unterstützen, die Welt des Demenzkranken zu verstehen. Nach wie vor wird ja der Großteil der Kranken von den Angehörigen betreut. Die Unterstützung ist deswegen auch so wichtig, weil Angehörige dadurch länger in der Lage sind, ihre erkrankten Verwandten zu betreuen.

Die Furche: Welchen Einfluss hat das Verhalten der pflegenden Angehörigen gegenüber den Demenzkranken? Hilft ein verständnisvolles Miteinander von Pfleger und Kranken, das Fortschreiten der Demenz zu verlangsamen?

Müller-Finger: Natürlich! Man weiß, dass der liebevolle Umgang und das Eingehen sowie die Beziehung zu den Erkrankten den Verlauf der Krankheit verzögert. Das Stadium des Vegetierens kann bei guter psychosozialer Betreuung hintangehalten werden. Wichtig ist es da auf jeden Fall, die Angehörigen zu entlasten, denn sonst kommt es bei ihnen zum Burn-out.Ebenso wichtig ist es, dass man der Demenz das gesellschaftliche Stigma nimmt. Ein Mensch kann sich selbst in dieser Krankheit noch weiterentwickeln, sein Leben vollenden. Auch der, der sich auf eine Beziehung mit dem Demenzkranken einlässt, kann noch viel lernen. Viele Angehörige haben ihre Eltern oder Partner noch einmal ganz anders kennengelernt.

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