ANGST als Zeitdiagnose

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Rhetorisch gibt es -von Papst Franziskus bis zu Emmanuel macron - Exorzismen gegen die angst, das Grundproblem unserer Gegenwart.

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Rhetorisch gibt es -von Papst Franziskus bis zu Emmanuel macron - Exorzismen gegen die angst, das Grundproblem unserer Gegenwart.

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Haben wir keine Angst, keine Angst vor der Welt, in der wir leben; keine Angst vor unseren Grundsätzen, nicht vor dem, was wir sind Wir müssen bereit sein, über unseren Schatten zu springen, und dürfen keine Angst davor haben, zu sagen: Ja!"

Was ein wenig nach einer Predigt klingt, stammt von einem weltlichen Würdenträger: Es sind Sätze aus der Dankesrede von Emmanuel Macron anlässlich der Verleihung des Karlspreises 2018. In dieser formuliert er vier Imperative für die Zukunft Europas und beschwört in seinem dritten mit Verve: Keine Angst! Es ist spekuliert worden, der Präsident des laizistischen Frankreichs habe sich in diesem rhetorischen Angstexorzismus von Papst Franziskus, einem früheren Karlspreisträger, inspirieren lassen, aber das ist reichlich unsicher. Sicher hingegen ist der zeitdiagnostische Befund, den er damit erhebt: Angst ist ein Grundproblem unserer Gegenwart.

Angstdiagnosen steigen überall

Das gilt freilich nicht nur politisch, wie Macron es in Bezug auf Europa ausbuchstabiert, sondern auch in anderen Feldern: Angstsklerosen lassen sich überall identifizieren. Die Erfahrung schreibt sich in Biographien ein (dem aktuellen Barmer Arztreport zufolge steigen einschlägige psychische Diagnosen gerade in der jüngeren Generation signifikant), sie ist popkulturell antreffbar (Keine Angst! von Casper, German Angst von Juse Ju oder schlicht Angst von Haiyti liefern Indizien) und als diffuses gesellschaftliches Grundgefühl präsent: Frühere Utopien, die unterschiedlich, aber doch allesamt versprachen, dass es der nächsten Generation besser als der jetzigen gehen solle, haben ihren diskursbestimmenden Spin verloren.

Es ist unklar geworden, welcher Fortschritt gemeint oder verantwortet werden könnte. Entsprechend regieren jetzt das (unterschiedlich ausgemalte) Bedrohungsszenario und die Defensive. Klimawandel, Migrationsfrage oder Europa: In all dem scheint es oft so, als wäre das Meiste schon erreicht, wenn zumindest das Schlimmste verhindert ist. Links wie rechts geht es um die Verteidigung vorhandener Standards, die Einigung auf Minimalkonsense, die Eindämmung von Bewegungen. Pointiert spricht daher der deutsche Soziologe Heinz Bude von einer "Gesellschaft der Angst", wenn es gilt, unsere Gegenwarten von einer zentralen Erfahrung her zu dechiffrieren: Angst, so Bude, vereine alle gesellschaftlichen Milieus und erscheine wie "das einzige Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind. Über Angst kann die Muslima mit der Säkularistin, der liberale Zyniker mit dem verzweifelten Menschenrechtler reden."

Immanuel Kants "Habe Mut!"

Die Diagnose freilich verlangt, ehe nach therapeutischen Maßnahmen gefragt wird, nach Anamnese: Wie ist Angst zu einer bestimmenden Textur der reflexiven Moderne geworden?

Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich an, ein genealogisches Standardverfahren zu wählen und das Problem in das Entwicklerbad des klassischen Aufklärungsnarrativs zu legen. Welches Bild wird sichtbar? Gemäß dieses Narrativs traten Aufklärung und Moderne an, um "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen" (so Horkheimer und Adorno). Das Habe Mut! Kants ist also wohl gewählt, invers spiegelt sich darin der heimliche Antipode aller Aufklärung - es ist die Angst in ihren vielen Gestalten, vor eigenem Denken ebenso wie vor eigener Freiheit. Auch wenn Moderne programmatisch auf Angstverarbeitung bezogen ist, setzt sie selbst neue Ängste frei, etwa wenn potenzierte Naturbeherrschung zugleich den Schrecken ökologischer Katastrophen entfesselt. Am Individuum selbst zeigen sich ähnliche dialektische Kippeffekte, etwa in der Ablösung des adeligen Erbschafts-durch das bürgerliche Leistungsprinzip.

Die Moderne, die auf Freiheits-und Erkenntnisfortschritt gepolt ist, mag dabei an Leistung interessiert sein, aber es ist immer zukünftige Leistung: Wenn Handeln und Wissen in der Moderne so dynamisch werden, dass stets neue Anforderungsprofile auftauchen, interessiert die gestrige Lösung gestriger Probleme heute nicht mehr. "Erbe" wird so durch "Leistung" und diese durch "Kompetenz" ersetzt (i. e. die Fähigkeit, zukünftige Probleme zu bewältigen), um nochmals abgelöst zu werden: durch das bloße Potenzial, die reine "Kompetenzkompetenz", die Fähigkeit, jene neuen Fähigkeiten zu generieren, die es braucht, um noch unbekannte Herausforderungen zu lösen. Selbst wenn soziale Wirklichkeit vielfach anders funktioniert, als die Schlüsselnarrative der Moderne suggerieren (der realexistierende Immobilienmarkt ist ein anschauliches Beispiel für die Wiederkehr des Erbschaftsprinzips), so bleiben sie wirkmächtig -sie träufeln weiterhin Imperative ins zeitgenössische Bewusstsein.

Auf diese Weise sorgt daher gerade die Moderne, die in nuce auf Fortschritt und Dynamik geordnet ist, aus strukturellen Gründen für stets neue Unübersichtlichkeit (Habermas), neue Ungewissheit und Unsicherheit. Sie disponiert so für angstaffine Subjektivität und ein erschöpftes Selbst (Ehrenberg), weil die Leistung des heutigen Tages morgen schon irrelevant sein mag, weil das eigene Tun nicht reichen könnte: mit Doppelgarage und Pool ins Burnout. Diese Angst amalgamiert unter dem Regime von Knappheit und Konkurrenz mit einer zweiten: dem Bewusstsein, etwas zu verlieren zu haben.

Das Gespenst der Ungewissheit

Längere Phasen im ideengeschichtlichen Entwicklungsbad würden anderes sichtbar werden lassen. Aber selbst wenn sich nur eine exemplarische Dialektik der Aufklärung zeigt, rührt man darin vielleicht doch an ein entscheidendes Drehmoment aktueller Angstdiskurse, das in der penetranten Reduktion aller Debatten auf das Flüchtlingsthema beinahe unsichtbar wird: nämlich dass der Kapitalismus der Gegenwart so vielfältig darauf bezogen ist, dass man nicht gut genug sein könnte -ökonomisch, moralisch, kulturell. Der Instagram-Narzissmus mag eine Reaktion darauf sein (nämlich übersteigerte Inszenierung eigener Besonderheit), der neue Nationalismus eine andere. Ganz den bisherigen Überlegungen entsprechend findet Letzterer nicht bei wirtschaftlich Abgehängten die meiste Resonanz, sondern in einer Mittelschicht, die angesichts von Digitalisierung und Globalisierung fürchtet, nicht mehr bestehen zu können. Nationalistische Politik greift diese Ängste auf, feuert sie an und projiziert sie auf den Fremden an der Grenze, um dort vorgeblich Souveränität und Kontrolle zu exerzieren. Auch das ist eine "eine Art Exorzismus", so Zygmunt Bauman: "Das Furcht einflößende Gespenst der Ungewissheit soll ausgetrieben werden."

Was aber wäre ein Medikament, das auch seriöse Therapeuten verschreiben würden?

Zeit der Angst

Sie scheint eine unsichtbare Weltmacht, ein Grundproblem der Gegenwart zu sein: Angst. Terror will sie entfesseln, Wissenschaft sie zähmen, Populismus lebt von ihr. Immer geht es um Ängste und die Verheißung, sich von ihnen befreien zu können. Ein Schwerpunkt zum Thema der Salzburger Hochschulwochen, die vom 30. Juli bis 5. August stattfinden.

redaktion: otto Friedrich

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