Drei

Anschreiben gegen Missstände

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Astrid Lindgrens Ideale prägen Gesellschaft und Erziehung bis heute. Ein Interview mit der Pädagogin Jutta Höbartner über die Pionierarbeit der Schriftstellerin.

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Astrid Lindgrens Ideale prägen Gesellschaft und Erziehung bis heute. Ein Interview mit der Pädagogin Jutta Höbartner über die Pionierarbeit der Schriftstellerin.

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Dass Gewalt gegen Kinder gesetzlich verboten ist, ist allen voran Astrid Lindgrens politischer Einflussnahme zu verdanken, sagt Jutta Höbartner, Gründerin und Leiterin des Wiener AstridLindgren-Zentrums. Auch an ihrem Bildungscampus lautet die Maxime: „Kinder Kinder sein lassen“, womit dem Leitbild der berühmten Namensgeberin Rechnung getragen werden soll.

DIE FURCHE: Inwiefern hat Astrid Lindgren die Gesellschaft geprägt?
Jutta Höbartner: Frauen wie sie sind Vorbilder und Vorkämpferinnen in vielerlei Hinsicht: Allein ihre eigene Lebensgeschichte, wie sie als junge unverheiratete, schwangere Frau nach Lösungen gesucht hat und dann alleinerziehend das Leben in den 1920er Jahren gemeistert hat, hat sicherlich vielen Mut gemacht. Das diverse und selbstbewusste Frauenbild spiegelt sich auch in ihren Büchern wider. Nicht von ungefähr wollte der schwedische Hausfrauenverband die Veröffentlichung von Pippi Langstrumpf stoppen.

DIE FURCHE: Es heißt, Astrid Lindgren habe 1945 mit „Pippi Langstrumpf“, ein im Sinne der Reformpädagogik „freies Kind“, das kinderliterarische System revolutioniert. Was genau bedeutet das und inwieweit ist Pippi hier tatsächlich ein gutes Vorbild?
Höbartner: Ein freies Kind kann sich frei entfalten, was nicht bedeutet, dass es rücksichtslos agieren kann. Astrid Lindgren selbst sagte einmal, wenn Pippi eine Funktion gehabt hat, außer zu unterhalten, dann war es die, zu zeigen, dass man Macht haben kann und sie nicht missbraucht. Pippi setzt ihre Kräfte ein zum Schutz anderer und nicht, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Auch wenn ihre Eltern nicht unmittelbar anwesend sind, gibt es diese Instanzen und den Respekt. Das ist etwas, was Lindgren auch immer wichtig war, und auch ein Grundprinzip vieler reformpädagogischer Strömungen ist: die Gleichwertigkeit von Erwachsenen und Kindern. Und: dass auch Autoritäten hinterfragt werden dürfen.

DIE FURCHE: Wie können diese Erziehungsideale verwirklicht werden?
Höbartner: Wir brauchen jedenfalls Humor. Lindgren wusste, dass auch sie als Mutter nicht perfekt war. Ich denke, auch das ist etwas, was allen Eltern gut tut, zu hören. Was sie immer wieder betont hat, war, dass man die Kinder Kinder sein lassen soll. Dass man die Kleinen ohne elterliche Intervention spielen, spielen, spielen lässt. Ihr pädagogischer Ansatz war auch, dass Eltern sich weniger sorgen und den Mut haben sollen, ihren Kindern mehr zu vertrauen, dass sie ihren Weg finden. Sie schaffen auch viel allein und es darf auch mal etwas schief gehen. Kinder brauchen Grenzen, ja. Aber in einem Rahmen, in dem sie sich frei entwickeln dürfen

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DIE FURCHE: Lindgren war davon überzeugt, dass durch Körperstrafen und mangelnde gezeigte Zuneigung ein Kind sein Leben lang geschädigt wäre: „Schenkt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann kommen die Manieren von allein.“ Ist es so einfach?
Höbartner:
Sie hat genau gewusst, wovon sie spricht. Liebe ist das, was wir geben müssen. Abseits der Kinderbücher gibt es zwei berührende Bücher, die erklären, wie sie zu dieser Überzeugung gelangt ist. Zum einen ihre Tagebücher von 1939 bis 1945, die unter dem Titel „Die Menschheit hat den Verstand verloren“ posthum herausgegeben wurden, und der Briefwechsel mit Sara Schwardt „Deine Briefe lege ich unter die Matratze. Ein Briefwechsel 1971 – 2002“. Die Autorin war zweifelsohne eine politische Person, die ihre Meinung auch öffentlich gemacht hat.

DIE FURCHE: Mit ihrer Rede „Niemals Gewalt“, die sie 1979 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt, löste sie eine politische und gesellschaftliche Debatte aus, die sogar dazu führte, dass Schweden – und in Folge auch andere Länder wie Österreich – Gewalt gegen Kinder gesetzlich verbot. War sie sich ihrer Macht bewusst?
Höbartner:
Sie war schon zu Lebzeiten eine sehr beliebte Persönlichkeit und ihre Popularität hat sie zweifelsfrei auch dafür genutzt, um gegen Missstände anzuschreiben. Ihr Märchen „Pomperipossa in Monismanien“ erzählt über die Steuerungerechtigkeit, was in letzter Konsequenz zum Sturz der schwedischen Regierung führte. Ein neues Tierschutzgesetz wurde aufgrund ihrer Streitschrift „Meine Kuh will auch Spaß haben“ erlassen. Als öffentliche Meinungsbildnerin hatte sie eine unglaubliche Strahlkraft. Und dieses Engagement zeigt sich auch in ihren Kinderbüchern. „Madita“ beispielsweise erzählt durch die Augen des kleines Mädchens vom gesellschaftlichen Wandel, der sozialen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung.

Das selbstbewusste Frauenbild spiegelt sich in den Büchern wider. Der schwedische Hausfrauenverband wollte die Veröffentlichung von Pippi Langstrumpf stoppen.

DIE FURCHE: Lindgren sagte, man müsse selbst keine Kinder haben, um gute Kinderbücher zu schreiben, man müsse nur selbst einmal Kind gewesen sein und sich daran erinnern, wie das war. Aber sind das Themen, die unsere Kinder heute bewegen? Kommt die Erzählweise noch an?
Höbartner:
Wir lesen in der Schule die Klassiker von Astrid Lindgren und ich bemerke, dass die Kinder ein unglaubliches Interesse daran haben. Natürlich fehlen in diesen Erzählungen Dinge wie ein Computer oder Smartphones, die heute relevant sind. Die Lebensrealität der Kinder heute ist sicher eine andere, aber zeitlose Themen wie etwa Tod, Trauer, Geschwisterliebe bei „Die Brüder Löwenherz“ packen die Jugendlichen heute genauso. Es ist eine besondere Erfahrung, dieses Buch mit den älteren Kindern zu lesen. Mit dem „Michel von Lönnerberga“ haben Jüngere heute genauso Spaß wie früher. Astrid Lindgren gibt darin einem kleinen Kerl, der soviel Unfug anstellt und mit dem man doch ein Herz haben muss, eine Stimme. Sie hat vieles aufgegriffen, was zuvor in der Kinderliteratur undenkbar war. Bei Ronja Räubertochter wird den Frauen plötzlich eine ganz andere Rolle zugeschrieben, das Buch hat eine große emanzipatorische Funktion, ohne erhobenen Zeigefinger. Da stellt sich auch nicht die Frage, für wen das Buch geschrieben wurde, Mädchen oder Bub ist völlig egal.

DIE FURCHE: Gibt es gegenwärtig Kinderund Jugendbuchautorinnen und -autoren, die eine ähnliche Strahlkraft wie Astrid Lindgren haben?
Höbartner:
Es gibt einige, die durchaus schwierige und kritische Themen in ihrer Arbeit aufgreifen. Andreas Steinhöfel oder Kirsten Boie beispielsweise, aber die fallen jetzt auch nicht durch gesellschaftspolitisches Engagement auf. Vielleicht fehlt ihnen aber auch diese herausragende, eigene Lebensgeschichte, wie sie Astrid Lindgren eben hatte.

DIE FURCHE: Corona-Leugner(innen) verweisen bei Demonstrationen auf Pippi Langstrumpfs „Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt!“ Was, denken Sie, würde die Autorin dazu sagen?
Höbartner:
Ich glaube, sie würde sich ganz stark gegen diese Vereinnahmung verwahren. Dieser Pippi-Spruch hat einen ganz anderen Hintergrund. Wie ich vorhin schon versucht habe zu erklären, hat Pippi zwar Macht, aber sie sorgt sich um ihre Mitmenschen. Sie will helfen und ihre Stärke dafür nutzen. Das, was heute teilweise bei den Demonstrationen geschieht, hat oft wenig mit der achtsamen Sorge um andere zu tun.

DIE FURCHE: Welches Buch von Astrid Lindgren muss man Ihrer Meinung nach unbedingt gelesen haben?
Höbartner:
Tatsächlich würde ich sagen, die Pippi Langstrumpf. Da ist so wahnsinnig viel drinnen. Es ist inspirierend und Mut machend. Wenn Pippi sagt: „Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe“. Das ist doch mal eine Ansage!

Hob

Jutta Höbartner

Die Pädagogin gründete 2003 in Wien das Astrid-Lindgren-Zentrum für ganzheitliches Lernen. Bis heute ist sie für die pädagogische Konzeptentwicklung verantwortlich.

Die Pädagogin gründete 2003 in Wien das Astrid-Lindgren-Zentrum für ganzheitliches Lernen. Bis heute ist sie für die pädagogische Konzeptentwicklung verantwortlich.

Standbild Navigator - © Foto: Die Furche

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