"Arbeitslos ist weg vom Fenster"

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Arbeitslosigkeit warfür die Österreicher der "Aufreger des Jahres 2003". Zu Recht: Über 330.000 Personen sind derzeit arbeitslos, im Jahresschnitt kommen elf Bewerber auf eine freie Stelle. Der Kampf um den Arbeitsplatz führt zu traumaähnlichen Krankheiten, warnen Psychologen. Als ein Ausweg wird der Weg in die Selbständigkeit, die Ich AG, propagiert. (Seite 2 und 3)

Lautes Stampfen mit den Füßen - der Schnee an den Schuhen ist eine willkommene Gelegenheit, das Arbeitsamt Esteplatz im dritten Wiener Gemeindebezirk so zu betreten, wie es sich jeder Arbeitslose immer gewünscht hat: aufmerksam machend, bestimmend, fordernd, ...

Im Arbeitsamt drinnen ist von solcher Aufmüpfigkeit nichts mehr zu spüren: Still wartet eine lange Menschenschlange vor dem Schalter, an dem die Krankenscheine ausgegeben werden; still sitzen Frauen und Männer an den Informationstischen und blättern in den Stellenangeboten; so still ist es, dass die umstehenden Personen neugierig herschauen, als der Journalist einen Arbeitslosen um Auskunft bittet. Der Gefragte winkt ab: kein Kommentar. Auch der zweite und die dritte Angesprochene geben sich zugeknöpft. "Das bringt doch nichts", meint schließlich ein anderer, "das interessiert doch niemanden - arbeitslos ist weg vom Fenster, aus!"

"Aufreger des Jahres"

Zum Jahreswechsel waren in Österreich 296.916 Menschen arbeitslos gemeldet - rechnet man die in Schulung befindlichen Jobsuchenden dazu, kommt man auf 331.483 Personen ohne Arbeit. Und auch wenn es kein lautes Aufstampfen gegeben hat, dass die Arbeitsplatzmisere kein Interesse hervorruft, stimmt nicht. Die "Aufreger des Jahres" 2003 waren laut einer repräsentativen Umfrage des Linzer Meinungsforschungsinstituts IMAS der Anstieg der Kriminalität und die Zunahme der Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte der Befragten gibt an, dass sie das Thema Arbeitslosigkeit intensiv beschäftigt.

Arbeitslosigkeit als Trauma

In seine Lektüre vertieft, sitzt ein junger Mann im Wartesaal des Arbeitsamtes. "Ich stehe kurz vor meiner Lehrabschlussprüfung, ich würde gerne weiterlesen", antwortet er auf die Frage nach einem Kommentar zu seiner Situation. Ein paar Reihen hinter ihm sitzt eine Frau. Unter ihren Schuhen ist der zerschmolzene Schnee zu einer Lacke zusammengeronnen. Sie warte schon seit 20 Minuten, sagt sie, "obwohl ich um Dreiviertel einen Termin gehabt habe". Die Frau ist zu einer Auskunft bereit - "aber leise": Sie war Kindergärtnerin, "wurde rausgemobbt", ist seit drei Jahren arbeitslos und kommt jetzt alle zwei Monate hier her, um den Antrag auf Notstandshilfe zu erneuern. Sie habe psychische Probleme, klagt die 51-Jährige: "Es ist deprimierend, wenn man so mitgeschleppt wird."

"Arbeitslosigkeit wird vielfach als Trauma erfahren", schreibt Klaus Ottomeyer in seinem Buch "Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen". Der Professor am Institut für Psychologie der Uni Klagenfurt zeigt, dass die am Arbeitsmarkt geforderte ökonomische Vermarktung und Dauerflexibilisierung zu einer Identitätsbelastung führt, die jener von Traumapatienten ähnlich ist. "Die von oben kommende Beschuldigung - Wer will der kann - wirkt zusätzlich krank machend", warnt Ottomeyer. "Die einen sind vom Ausbrennen bedroht, die anderen von Depression und Selbstverachtung."

Im Gespräch mit der Furche vergleicht der Psychologe und Psychotherapeut die Situation zahlreicher Arbeitsloser mit der von Missbrauchsopfern in der Familie: "Zuerst werden sie zu Opfern gemacht und dann auch noch dafür beschuldigt." Zu "präventiver Distanz" rät Ottomeyer: "Zu viel Bindung an einen Betrieb ist ungesund, Loyalität ist eine Falle, Distanz und oberflächliche Kooperationsbereitschaft sind ein besserer Panzer."

Wartemarke in der Hand

Im Arbeitsamt legt niemand den Mantel ab, der Reißverschluss beim Anorak bleibt zu; vom Sessel benutzen viele nur den vorderen Rand - immer am Sprung, die Wartemarke in der Hand. Ein Gong signalisiert, dass sich die Nummer an der Anzeigentafel geändert hat: "616 in Raum 2005". Ein Pärchen steht auf, er begleitet sie bis zur Tür, noch ein Händedruck, hinein geht sie allein. Die arbeitslose Kindergärtnerin sitzt noch immer da. Hoffnung, dass sie noch Arbeit bekommt, hat sie keine mehr. "Ich war schon beim Billa und beim Zielpunkt und, und, und - ohne Erfolg." Dann erzählt die Frau, dass sie öfters als Kindermädchen hätte arbeiten können - aber nur in Schwarzarbeit: "Das kann ich nicht machen, ich muss an meine Pension denken, ich brauch' die Versicherungsjahre."

70 Prozent im Arbeitsleben

Bis 2010 sollen laut EU-Zielvorgaben 50 Prozent der über 55-Jährigen in den Arbeitsmarkt integriert sein. Österreich schafft derzeit erst knapp 30 Prozent. Dafür sind wir in einem anderem Segment Vorreiter: 70 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 65, so die EU, sollen bis 2010 beschäftigt sein. Österreich hat bereits jetzt eine Gesamtbeschäftigungsquote von über 68 Prozent. Zu Stande kommt die hohe österreichische Erwerbsquote, weil die Jugend früh auf den Arbeitsmarkt drängt - eine Folge der starken Verbreitung von Lehre und berufsbildenden Schulen. Langfristig, befürchten Experten, ist die hohe Jugenderwerbsquote jedoch alles andere als positiv. Es fehlten die Qualifikationen, die für ein dynamisches Wachstum nötig seien.

Als befreiendes Argument in der Diskussion um die hohe Arbeitslosenrate verweist die Regierung gerne auf die Rekordbeschäftigungszahlen: Auch im Vormonat war mit weit über drei Millionen unselbstständig Beschäftigten ein neuer Höchstwert erreicht. Hohe Arbeitslosigkeit bei hohen Beschäftigungszahlen? Vor allem die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit wird als Grund für diese auf den ersten Blick unlogische Diskrepanz genannt.

Hohe Beschäftigungszahlen sagen aber nichts über die Qualität der Arbeit aus: ob es sich bei den Jobs um Vollarbeitsplätze oder Teilzeit-Beschäftigungen handelt. Klaus Ottomeyer zitiert dazu einen Witz aus den USA: "Wissen Sie , dass unter Clinton so und so viele neue Jobs geschaffen wurden? - Ja, ich habe drei von ihnen."

Elf Bewerber pro Stelle

Auf eine gemeldete offene Stelle sind im Jahresschnitt 2003 elf Bewerber gekommen. Im Dezember war das Verhältnis sogar 16:1.

Im Wartesaal des Arbeitsamts läutet wieder der Gong. Alle Blicke gehen zur Anzeigentafel: "714 in Raum 2006." Die Kindergärtnerin verabschiedet sich und läuft zum Beratungszimmer. Auf dem Weg dorthin muss sie an einem Bild vorbei, das einen Hundeschlitten im Schnee zeigt. Darunter steht: "Der Schritt ist mehr als das Ziel." Für viele, an diesem Tag, in diesem Wartesaal, muss das wie blanker Hohn klingen.

Buchtipp:

ÖKONOMISCHE ZWÄNGE UND MENSCHLICHE BEZIEHUNGEN

Soziales Verhalten im Kapitalismus

Von Klaus Ottomeyer, LIT-Verlag, Münster 2004, 200 Seiten, brosch., e 18.90

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