Arbeitsmarkt -neue Wege sind gefragt!

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Ein Teil der Antwort auf die "Industrie 4.0" könnte die Erweiterung des Arbeitsmarktes sein: Warum sollte nicht Care-Work, die derzeit unbezahlt in Familien oder in arbeitsrechtlich prekären Verhältnissen geleistet wird, in Arbeitsplätze transformiert werden? Ein Gastkommentar.

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Ein Teil der Antwort auf die "Industrie 4.0" könnte die Erweiterung des Arbeitsmarktes sein: Warum sollte nicht Care-Work, die derzeit unbezahlt in Familien oder in arbeitsrechtlich prekären Verhältnissen geleistet wird, in Arbeitsplätze transformiert werden? Ein Gastkommentar.

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Seit einigen Jahren prognostizieren Studien den Wegfall zahlloser Arbeitsplätze als Folge der fortschreitenden Digitalisierung: Durch das "Internet der Dinge" seien erstmals nicht nur die Beschäftigung von Menschen mit geringer Qualifikation, sondern auch die Arbeitsplätze von Hochqualifizierten gefährdet: Jede repetitive Arbeit könnte in der "Industrie 4.0" durch Algorithmen besser, schneller und fehlerfreier verrichtet werden. Die ursprünglichen Szenarien, nach denen binnen weniger Jahrzehnte bis zu 40 Prozent der Arbeitsplätze verloren gehen, wurden zwar mittlerweile relativiert und um voraussichtlich neu entstehende Arbeitsplätze ergänzt; evident ist jedoch, dass der Arbeitsmarkt vor großen Veränderungen steht. Unklar ist allerdings, welche Antwort die Gesellschaft hier geben soll. Liegt sie in der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens oder in der Verpflichtung zu gemeinnütziger Tätigkeit als Gegenleistung für Transfereinkommen? Beide Ansätze greifen meines Erachtens zu kurz, weil sie auf einem Menschenbild und Gesellschaftsverständnis aufbauen, das längerfristigen Effekten von Rahmenbedingungen auf das menschliche Verhalten nicht Rechnung trägt: Auch wer der Auffassung ist, dass die Menschen a priori zu sinnvoller Tätigkeit fähig und bereit sind, ihr nachzugehen, wenn sie materiell abgesichert sind, kennt doch die Erfahrung, dass der Mensch der Versuchung ausgesetzt ist, Tätigkeiten zu meiden, die, über längere Zeit ausgeübt, keine Freude bereiten, es sei denn, man hat eine Verpflichtung übernommen, sie zu verrichten. Und dass Zwang zu einer - und sei es noch so wichtigen -Tätigkeit keine Alternative darstellt, kann aus dem unsere Grundrechtsordnung prägenden humanistischen Weltbild und Freiheitsverständnis unschwer begründet werden und bietet ebenfalls keine nachhaltige Perspektive. Was also tun?

Produktivität und Spezialisierung

Ich gehe davon aus, dass zwar die Technologie Potenzial zur Vernichtung und Schaffung von Arbeitsplätzen hat, dass jedoch entscheidend ist, wie die Gesellschaft auf die technologischen Veränderungen reagiert. Nicht "die Arbeit" als solche scheint technologiebedingt zu entschwinden, sondern nur jene Form der Erwerbsarbeit, auf der unser derzeitiges Wirtschaftssystem und gesellschaftliches Mindset aufbauen.

Für mich greift die Vorstellung zu kurz, dass nur jene Tätigkeiten Arbeit sind, die im derzeitigen regulatorischen Umfeld als Arbeit qualifiziert, monetär bewertet und damit zentraler Anknüpfungspunkt für unser erwerbszentriertes Sozialsystem sind; vielmehr halte ich es für eine gesellschaftliche Aufgabe, Arbeit so zu verstehen und zu verteilen, dass alle arbeitsfähigen Menschen in der Lage sind, am Arbeitsprozess zu partizipieren. Warum treten viele, die bis vor wenigen Jahren für ein "Recht auf Arbeit" eingetreten sind, nun für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein und geben damit die gesellschaftliche Verpflichtung auf, für Arbeit zu sorgen?

In einer Langfristperspektive ist eine kontinuierliche Übernahme von ursprünglich innerfamilialer Produktion von Gütern und Dienstleistungen durch extrafamiliale Organisationen zu beobachten. Sie ermöglichte auch jenen enormen Anstieg an Produktivität, Spezialisierung und Innovation, der Basis unseres Lebensstils - mit all seinen Vor-und Nachteilen -ist. Viele Tätigkeiten werden heute in einem hochkomplexen und weithin globalisierten arbeitsteiligen Prozess durch private Unternehmen verrichtet; andere hat die Gemeinschaft auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen staatlich organisiert übernommen.

Betreuungsarbeit als Exempel

Die Arbeitswelt, die wir heute sehen, ist Ergebnis eines jahrzehntelangen Transformationsprozesses, in dem die Effekte geänderter Produktionsweisen und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen so gestaltet wurden, dass die gesellschaftliche Kohäsion erhalten blieb, auch wenn nicht übersehen werden darf, dass diese Entwicklungen meist friktionsbeladen verliefen. Dies soll uns heute da-

Bis die nach wie vor als Familienarbeit verrichtete Care-Work als Erwerbsarbeit geschätzt und adäquat entlohnt wird, werden wohl noch viele Jahre vergehen.

zu motivieren, möglichst vorausschauend zu handeln, um künftig jene Probleme zu vermeiden, die aus einem allzu langsamen Wandel im regulatorischen Umfeld bisher immer noch eingetreten sind. Letztlich geht es darum, das Mindset und das regulatorische Umfeld der Gesellschaft dahingehend zu adaptieren, dass inner- und extrafamiliale Arbeit der gesellschaftlichen Situation und den technologischen Gegebenheiten adäquat organisiert und bezahlt werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Langfristentwicklung ist es naheliegend, dass jene Tätigkeiten ein großes Problemaber auch Chancenfeld sind, die nach wie vor überwiegend im familialen Umfeld erbracht werden, wo sich aber bereits seit Längerem abzeichnet, dass sie verstärkt durch familienexterne Organisationsformen substituiert werden: die Betreuung von Kindern und die Betreuung und Pflege älterer und behinderter Menschen. So wie bei früheren Transformationsprozessen dauert es allerdings auch hier viele Jahre, bis eine nachhaltige Antwort auf sich verändernde Parameter gefunden wird.

Bewusstseinswandel nötig

Dies zeigt sich unter anderem am Beispiel der 24-Stunden-Betreuung: Derzeit ist diese Tätigkeit nur leistbar, wenn sie entweder im Familienkreis unbezahlt oder von aufopferungsvollen (vorwiegend osteuropäischen) Frauen mit einer vergleichsweise unangemessen niedrigen Bezahlung und zu arbeitsrechtlich prekären Bedingungen verrichtet wird. Beunruhigend ist für mich nicht nur, dass dieses Modell spätestens zu einem Zeitpunkt nicht mehr funktionieren dürfte, wenn es die Babyboomer dringend benötigen, sondern auch, dass nicht jene Chancen gesehen werden, die eine Neuorganisation dieses Tätigkeitsbereichs bietet: Hier könnten reguläre Arbeitsplätze für Menschen unterschiedlicher Qualifikation entstehen, die durch den technologischen Wandel traditionelle Arbeit an Maschinen verlieren, jedoch geeignet sind sowie dafür ausgebildet und - nicht zuletzt durch neue Technologien -unterstützt werden, einen für Menschen überaus wichtigen Dienst zu leisten.

Dieses Beispiel gilt mutatis mutandis auch für andere Tätigkeitsfelder: In vielfältiger Weise müssen Veränderungen in den Rahmenbedingungen im Bildungs-und im Sozialsystem erfolgen, um im Mindset der Gesellschaft jene Effekte zu bewirken, die eine Partizipation praktisch aller Erwerbsfähigen am Erwerbsprozess in einem erweiterten Arbeitsmarkt ermöglichen.

Bis die nach wie vor als Familienarbeit verrichtete Care-Work als Erwerbsarbeit geschätzt und adäquat entlohnt als reguläre Arbeit gesehen wird, werden wohl noch viele Jahre vergehen; nachhaltige Veränderungen im Mindset und der gesellschaftlichen Organisation sollten in kleinen Schritten begonnen werden, wozu sich eine Neugestaltung des regulatorischen Umfelds der 24-Stunden-Betreuung anbietet.

Der Autor ist Professor für Arbeits-und Sozialrecht an der Universität Wien

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