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Über die ökonomische Effizienz des Sozialen: Aufzeichnungen zu einem Gespräch mit Amartya Sen am Rande eines Treffens in Wien.

Eine Zeit lang wurde Armut als Mangel an Gütern definiert. Bis Amartya Sen kam. Der in Indien gebürtige Ökonom, der für seine Arbeiten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, argumentierte, dass es auch um die Fähigkeit gehe, diese Güter in Freiheiten umzuwandeln. Und zwar in Freiheiten von Menschen, ihre Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen.

Güter sind begehrt um der Freiheiten willen, die sie einem verschaffen. Die Möglichkeit, seine Vorstellungen von einem guten Leben zu verwirklichen, hängt aber nicht nur von diesen Gütern allein ab, sondern auch von gesellschaftlichen Strukturen, Lebensgewohnheiten, sozialen Techniken und dem allgemeinen Reichtum. Es genügt also nicht, dass Äpfel am Baum hängen - entscheidend ist, ob dem Schwächsten eine Leiter zur Verfügung steht. In Sens Worten: "Ein aus egal welchem Grund behinderter Mensch kann gute Gründe haben, das gleiche tun zu wollen wie andere Menschen, und daher kann er starke Gründe haben, zusätzliche Ressourcen zu fordern, um die Fähigkeit zu erlangen, die gleichen Dinge zu tun, die andere tun können, ohne dafür zusätzliche Ressourcen zu brauchen."

Im Alltag der Armen gibt es keine Armutsgrenze. Sie erfahren Armut als Lebenslage des Mangels. Armut bedeutet einen Mangel an Möglichkeiten, um an den zentralen gesellschaftlichen Bereichen zumindest in einem Mindestausmaß teilhaben zu können: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Armut ist ein Mangel an "Verwirklichungschancen" eines Menschen, ein Verlust an substantiellen Freiheiten.

Für Österreich heißt das: Man spricht von "Armut und sozialer Ausgrenzung" nur dann, wenn neben dem sehr geringen Einkommen große Probleme im Alltag auftreten: Substandardwohnung, Kreditrückstände und Vereinsamung, sich Heizen, Essen und Wohnen nicht mehr leisten zu können, nicht in der Lage zu sein, abgenützte Kleider zu ersetzen. Arme sind doppelt so oft krank wie Nicht-Arme. Armut wird nicht allein durch die Ermöglichung höherer Einkommen reduziert, sondern durch eine bessere Gesundheitsversorgung für Einkommensschwache, durch die Beseitigung feuchter Substandardwohnungen, wenn Zukunft nicht von der Herkunft abhängt, wenn Kinder gleiche Bildungschancen haben, wenn man vom Job, den man hat, auch leben kann, wenn Qualifizierung am Arbeitsmarkt für Benachteiligte möglich ist.

Skepsis bei "sozialer Treffsicherheit"

Für die Armutsforschung hatten diese scheinbar schlichten Gedanken enorme Wirkung: 1. Arme sind Subjekte, keine Objekte ökonomischen Handelns. 2. Von Freiheit können wir erst sprechen, wenn sie auch die Freiheit der Benachteiligten miteinschließt. 3. Die Erhöhung des Güterumfangs und Wirtschaftswachstums allein kann Armut nicht bekämpfen.

Besonders misstrauisch ist Sen gegenüber Diskussionen zur "sozialen Treffsicherheit" (engl. "targeting"): "Die Analogie mit einer Zielscheibe sieht den Leistungsbeziehenden in keiner Weise als aktive Person, die für sich selbst sorgt, handelt und tätig ist. Das Bild ist mehr das eines passiven Empfängers als eines Akteurs." Das Targeting-Modell kommt immer wieder ins Spiel - in Westeuropa wie in den Ländern des Südens. Sen hält es für nicht effizient, weil es die Betroffenen nicht ernst nimmt. Am Beispiel der Hungerkatastrophen konnte er zeigen, dass es nicht zu wenig Nahrungsmittel gab, sondern dass sie die Armen sich nicht kaufen konnten. Die treffsichere Versorgung für die, die es wirklich brauchen, ist nicht effizient. Mittlerweile haben Regierungen gelernt, dass sie bei akuter Gefahr einer Hungersnot Menschen mit Zahlungsmitteln versorgen, etwa indem sie sie in öffentlichen Arbeiten kurzfristig beschäftigen.

Die andere Seite der Medaille, der Reichtum, kommt ähnlich in den Blick wie die Armut. Sowie Armut mit "sozialer Ausgrenzung" genauer beschrieben werden kann, so geht es bei Reichtum nicht nur um die gekauften Güter, die konsumistische Seite. Es geht um den Möglichkeitsraum, den Reichtum für die betreffenden Personen eröffnet, der auch ein Sicherheitsraum ist: für den Fall, dass man's hat, wenn man's braucht. Reichtum definiert sich durch kapitale Möglichkeiten.

Den Reichtum eines Landes machen auch viele andere Dinge aus: vom Humankapital - also Wissen und Können der Menschen - bis hin zu hohen Sozialstandards: Ein gutes Qualifikationsniveau der Bevölkerung ist eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Prosperität; ein gutes Gesundheitssystem und die solidarische Absicherung von Risken wie Arbeitslosigkeit oder Alter zählen zum Reichtum einer Gesellschaft. Sie sind Reichtums- und Wohlstandsindikatoren.

Das Soziale selbst hat eine hohe ökonomische Effizienz. Staaten mit ausgebauten Sozialversicherungssystemen sind weltweit die konkurrenzfähigsten Volkswirtschaften. Eine hohe Sozialquote korrespondiert nicht mit wirtschaftlicher Rückschrittlichkeit, sondern im Gegenteil mit hoher Prosperität. Ein gutes Sozialsystem ermöglicht mehr Freiheit für die Einzelnen, weil es Risken abfedert. Es ist in Wirklichkeit ein Standortvorteil und kein Wettbewerbsnachteil.

Diesen Erkenntnissen stehen offensichtlich Interessen entgegen. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit schmieden einflussreiche Interessensgruppen an einem Abkommen, das massive Auswirkungen auf die soziale Sicherheit haben kann: Die Welthandelsorganisation (WTO) ruft nach der flächendeckenden Umwandlung von Bürgern in Kunden; das GATS-Abkommen ("General Agreement on Trade in Services") soll soziale Dienstleistungen zur Ware machen. Gesundheit, Bildung, Altenpflege wird damit käuflich.

Lehrbeispiel Britisches Gesundheitssystem

Dieser Angriff auf universelle soziale Bürgerrechte ist fatal für die Einkommensschwächeren, deren Möglichkeit am Markt abzustimmen, begrenzt ist. Aus England oder den USA stammt auch das geflügelte Wort von den "Poor services for poor people". Öffentliche schlechte, traditionelle Schulen für die Einkommensschwachen - private gute, reformpädagogische Schulen für die Wohlhabenden. Staatliche, miese Gesundheitsversorgung für die Ärmeren - private, engagierte Vorsorge für die Reicheren.

Am Beispiel des Niedergangs des britischen öffentlichen Gesundheitssystem lassen sich die Phasen eines solchen Prozesses nachverfolgen: Zuerst wendet sich die einkommensstarke, junge und gesunde Klientel den privaten Anbietern zu. Diese werden durch entsprechende attraktive Angebote und aufwendiges Marketing alles tun, sich ihrerseits die "Filetstücke" des Marktes zu sichern. Mit dem Marktanteil sinkt in einer zweiten Phase die wirtschaftliche Kraft der öffentlichen Anbieter und damit die Qualität ihres Angebots. Schließlich liefert die schlechte Qualität der öffentlichen Anbieter den Grund, sie entweder ebenfalls zu privatisieren, oder aber sie als minimale Rumpfversorgung für die einkommensschwächeren Gruppen bestehen zu lassen.

Im GATS-Abkommen sind die Qualität einer Dienstleistung, der Arbeits- und Gesundheitsschutz oder sozialpolitische Ziele nicht enthalten. Wenn Gesundheit, Bildung u. ä. zur Ware werden, so ist das ein völlig anderer Vorgang, als wenn Warenhandel durch Abschaffung von Zöllen und Handelshemmnissen erleichtert wird. Ein gemeinnütziges und solidarisches Selbstverständnis, auch für die Einkommenschwächeren da zu sein, wird mit GATS unfinanzierbar.

Liberalisierung, die die Wahlmöglichkeiten und Freiheitschancen der Einkommensschwächsten einschränkt, ist eine halbierte Freiheit. Bei der Analyse sozialer Gerechtigkeit geht es immer auch darum, so Sen, den individuellen Nutzen nach den "Verwirklichungschancen" der Betroffenen zu beurteilen. Eine Zeit lang wurde Armut als Mangel an Gütern definiert. Bis Amartya Sen kam.

Der Autor ist Mitbegründer der österreichischen Armutskonferenz und Sozialexperte der Diakonie.

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