Auch Taliban brauchen Krankenhäuser

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Internationale Truppen stürmten ein Spital in Afghanistan – weil sie Aufständische vermuteten. Der Arzt Nasim Khogiani verteidigt im FURCHE-Gespräch die Hilfe für den Gegner.

Soldatenstiefel stampfen den Krankenhausflur entlang, laufen die Stiegen hinauf, Ärzte stellen sich ihnen in den Weg – ohne Erfolg; die Soldaten stürmen in jeden Raum, versperrte Türen brechen sie auf. Der Vorfall hat sich am Mittwoch vergangener Woche in Shanis, einer Stadt südlich der afghanischen Hauptstadt Kabul, ereignet: Ausländische Soldaten dringen in das vom Schwedischen Afghanistan Komitee geführte Spital ein und suchen nach Aufständischen. Sämtliche Patienten, selbst die bettlägrigen, und das Personal werden gezwungen, die Zimmer zu verlassen. Ohne Gründe zu nennen, werden Krankenhausmitarbeiter und Angehörige von Patienten gefesselt. Nach zwei Stunden ziehen die Soldaten ab; zurück bleibt der Befehl, dass jeder in der Klinik behandelte Aufständische den Koalitionstruppen gemeldet werden muss.

Das Schwedische Afghanistan Komitee protestiert: Das Verhalten sei nicht akzeptabel und bedeute nicht nur Hausfriedensbruch, sondern auch einen klaren Verstoß gegen die Abkommen zwischen Hilfsorganisationen und der Internationalen Afghanistan-Truppe ISAF. Und die Weisung gefährdet den Fortbestand zahlreicher Kliniken in Afghanistan. Denn (noch) sind Angriffe auf Krankenhäuser für die Taliban tabu. Das sagt der Arzt Nasim Khogiani im Telefon-Interview mit der FURCHE. Khogiani organisiert die Einrichtung von 600 Gesundheitsstationen im Distrikt Nangarhar, im Osten des Landes an der Grenze zu Pakistan gelegen. Jeweils ein Mann und eine Frau betreuen diese „Health Posts“. Für deren Auswahl, Ausbildung und Entsendung ist Khogiani in Zusammenarbeit mit der niederländischen Hilfsorganisation „HealthNet TPO“ zuständig. 16 Stationen muss er noch einrichten. Dann ist eine Basis-Gesundheitsversorgung für die Bewohner der entlegensten Regionen abseits der Städte gesichert – die auch von verletzten Taliban-Kämpfern genutzt wird.

Schulen, besonders die für Frauen, im Visier

„Unsere Health Posts sind auch für die Taliban wichtig“, sagt Khogiani, „deswegen lassen sie uns in Ruhe.“ Im Gegensatz zu anderen Gemeindeeinrichtungen und Schulen, besonders solchen, in denen auch Mädchen und Frauen unterrichtet werden; regelmäßig werden diese von Gefolgsleuten der Islamisten überfallen und zerstört.

Nasim Khogiani hat in den 1980er Jahren in der DDR Medizin studiert. „Mir hat Ostdeutschland seine gute Seite gezeigt“, blickt Nasim zurück: Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und die Überzeugung, dass nicht nur das Materielle im Leben zählt, hat er neben seinem Studium gelernt. Sechs Jahre teilt er sein Zimmer mit einem Christen: „Das prägt“, sagt der Sunnit. 1990 kehrt er in seine Heimat zurück – als einziger von 60 Landsleuten, die mit ihm in Deutschland studiert haben! Khogiani geht nach Khogiani, in seinen Heimatbezirk mit gleichem Namen. Er baut das Gesundheitssystem des Bezirks auf, gewinnt das Vertrauen der Bevölkerung. Männer lassen ihre Frauen von Ärzten behandeln – anderswo in Afghanistan zu der Zeit unvorstellbar!

Aber das Talibanregime setzt auch Khogiani zu, doch seine Reputation bei den Patienten ist groß; die Macht der Islamisten endet an der Spitalstür. Anderswo werden Krankenhäuser geplündert, in Khogiani nicht. „Ich habe weiterhin Frauen behandelt, ich habe mich weiterhin mit Kolleginnen in einem Raum besprochen“, erzählt der Arzt und fügt hinzu: „Ich behandelte alle gleich: Kommunisten, Islamisten, Christen, Terroristen – ich bin Arzt.“ Und das ist bis heute so. Es geht auch nicht anders. „Wir haben hunderte Kliniken in den von Taliban kontrollierten Gebieten. Wenn wir ihnen den Zutritt verweigern, bedeutet das das Aus für die Gesundheitsversorgung dort.“

Wie umgehen mit den Taliban? Die Frage, die sich an der Tür jedes Mini-Spitals in der Einöde Afghanistans stellt, treibt auch die internationale Staatengemeinschaft um. Die Moderaten einbinden, die Extremen bekämpfen, lautet die Kurzformel, mit der ein neues Afghanistan-Kapitel aufgeschlagen werden soll. Dass die internationale Unterstützung jedoch auf jeden Fall weitergehen muss, davon sind fast alle Entscheidungsträger überzeugt. Und die Zweifler unter ihnen sollten Nasim Khogiani anrufen, der sagt ihnen dann ein durchschlagendes Argument am Telefon: „Angesichts der Not, Arbeits- und Perspektivenlosigkeit würden ansonsten alle zu den Taliban überlaufen.“

Trotz einer neuerlichen Verschlechterung der Sicherheitssituation, sagt der Arzt, hat sich der Lebensstandard in den großen Städten verbessert. Khogiani lebt mittlerweile in Dschalalabad, eine der großen Städte des Landes östlich von Kabul, nahe dem strategisch wichtigen Khyber-Pass, der nach Pakistan führt. Den Umzug vom Land in die Stadt haben Khogianis Kinder provoziert – nur hier kommen sie zu einer Schulausbildung, die diesen Namen verdient. Am Land musste der Vater den Lehrer ersetzen: „Ansonsten lernen die Kinder nichts – das war zu meiner Schulzeit schon einmal viel besser“, erinnert sich der 46-Jährige.

800 Wahllokale zum Schein eingerichtet

Auch für die Präsidentschaftswahl vor wenigen Wochen diagnostiziert Khogiani ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Während er den Städten einen geregelten Wahlablauf zuspricht, beklagt er den sehr kleinen Wählerinnenanteil am Land. – Und die Wahlfälschungen, die Amtsinhaber Hamid Karzai vorgeworfen werden? Khogiani glaubt nicht, dass diese Manipulationen von ganz oben angeordnet wurden. Er meint, dass Bürgermeister und andere Karzai-Bundesgenossen auf unteren Ebenen die Wahlen beeinflussten, da sie bei einer Niederlage ihres Präsidenten auch ihre Ämter verlieren würden.

Laut einem Bericht der New York Times vom Sonntag sollten Karzai-Anhänger 800 Wahllokale zum Schein eingerichtet und von dort tausende Stimmen für Karzai gemeldet haben. In hunderten rechtmäßig eingerichteten Wahllokalen seien wiederum Zehntausende zusätzliche Stimmen abgegeben worden. Aus einigen Provinzen gibt es demnach zehnmal mehr Stimmen für Karzai, als die Region Wähler zählt.

Nach Auszählung aller Stimmen kommt der Amtsinhaber zwar auf über 50 Prozent Zustimmung. Eine Stichwahl zwischen Karzai und seinem Herausforderer, dem ehemaligen Außenminister Abdullah Abdullah, im Oktober bleibt jedoch aufgrund der nachgewiesenen Manipulationen sehr wahrscheinlich. Auf die Frage, ob sich ein FURCHE-Reporter zu diesem Anlass anstelle von Telefoninterviews aus Österreich nach Dschalalabad wagen könnte, antwortet Khogiani zurückhaltend: „In der Stadt würde es vielleicht gutgehen, aber die Straße zwischen Kabul und Dschalalabad ist für einen Ausländer lebensgefährlich.“ Selbst für einheimische Journalisten wird ihr Beruf immer mehr zur Lebensgefahr. Oder wie es Hasan Khan von Khyber TV in einem Interview ausdrückt: „Für uns ist das hier Kriegsgebiet, du weißt nie, woher die Kugel kommt.“

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