Aufbau der Bürgergesellschaft

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Die Vision hinter dem Schlagwort: eine Solidargesellschaft, die auf einem sicheren Wertefundament ruht; in welcher das Füreinander wieder seinen Stellenwert erhält; in der menschliche Wärme dem kalten anonymen Apparat gegenübersteht.

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Die Vision hinter dem Schlagwort: eine Solidargesellschaft, die auf einem sicheren Wertefundament ruht; in welcher das Füreinander wieder seinen Stellenwert erhält; in der menschliche Wärme dem kalten anonymen Apparat gegenübersteht.

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Die Fragen "Wozu taugt der Staat?", "Welche Aufgaben soll die öffentliche Hand übernehmen, was kann sie getrost anderen überlassen?" werfen das Problem der Aufgabenverteilung im Staat auf. Der Befund, daß diese Aufgabenverteilung nicht mehr richtig ist, hat bei manchen zur Systemkritik, zur Forderung nach Steuersenkungen, zur Bürokratiekritik geführt, bei uns in der Volkspartei zum Ruf nach einer aktiven Bürgergesellschaft.

Der Staat wird dabei entlastet, gibt Aufgaben ab; einzelne, die Familie, freie Vereinigungen - sie alle übernehmen Verantwortung für sich selbst und andere. Getreu den katholischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsgrundsätzen. In der aktiven Bürgergesellschaft wird die berühmte Kennedy-Botschaft klar beantwortet: "Frage nicht stets, was der Staat für dich tun kann, sondern frage, was du für den Staat tun kannst!". Gemeint ist dabei die Gesellschaft, das Biotop, in dem wir alle leben, denn kein Mensch ist eine Insel. So wie unser natürliches Biotop gefährdet ist und zur ersten Umweltschutzbewegung führte, die ansehnliche Erfolge zeitigte, so ist auch unser gesellschaftliches Biotop gefährdet: Wir brauchen eine zweite Umweltschutzbewegung, welche die Gesellschaft in ihren Fundamenten sichert.

Zur Forderung nach einer neuen Aufgabenteilung kamen die einen aus staatsfinanziellen Gründen. Die Aufgaben des Staates wachsen ins Unfinanzierbare, die Steuerlast wird immer drückender, Steuerflucht und Bürgeraufstand nehmen zu. Beispiel Schweden: Dort haben die Bürger revoltiert und das Steuerjoch abgeworfen, ganze Kategorien von Sozialleistungen einfach gestrichen. Hand in Hand damit gingen schwere Wirtschaftskrisen, Abwertung und bittere Kämpfe in der Gesellschaft.

Andere wiederum kamen zur Forderung nach einem Zurückdrängen des Staates aus ideologischen Gründen. Der Steuer- und Wohlfahrtsstaat kümmert sich nicht nur um seine Bürger, er beherrscht sie auch durch seine Bürokratie, zwingt sie in Abhängigkeit und schafft die maßlose Taschengeldgesellschaft: Dem Bürger wird das Geld bis auf ein Taschengeld weggesteuert, der Staat nimmt das Geld und verteilt es gleichmäßig auf alle anderen; er entscheidet über die Bedürfnisse, die legitime Bedürfnisbefriedigung. Ein Drittel der Mittel allerdings behält er für sich als Verteilungsprämie für die Kosten des Staatsapparates ein ... Das führte zur Revolte der Bürger in England unter Margaret Thatcher: Der blaßrosa Wohlfahrtsstaat der Labour-Regierung wurde weggewischt - und Tony Blair hat ihn nicht wieder eingeführt. Auch dieser Bürgeraufstand brachte der englischen Gesellschaft tiefe Verwundungen (Bergarbeiterelend!), die bis heute traumatisieren.

Der aus meiner Sicht entscheidende Grund für den Kampf um eine Neuordnung von Staat und Gesellschaft ist zwar auch ein grundsatzpolitischer, aber ein anderer: Mir geht es nicht nur um Kampf gegen Steuer und Staatsallmacht. Mir geht es um den Kampf für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die zerfallenden Werte und Fundamente der Gesellschaft machen die Neuordnung nötig. Die Aufgabenkonzentration beim Staat und seinem Apparat einerseits, der Materialismus in der Gesellschaft andererseits haben zur Kälte des Apparats geführt, zu einer Ellbogengesellschaft: Die einen werden befürsorgt von einem staatlichen Apparat und sind abhängig; die anderen stehen im Jeder-gegen-jeden-Kampf um materiellen Wohlstand und kümmern sich nur um sich selbst. Ein kalter Wind geht durchs Land - jeder ist sich selbst der Nächste, und um die Zukurzgekommenen hat sich gefälligst der Staat zu kümmern. Die Verluste an gelebter und belastbarer Solidarität werden größer. Ebenso die Passivierung und Individualisierung der Menschen - die Demokratie droht im Formalen zu erstarren. Damit geht ein Grundwerte- und Sinnverlust Hand in Hand - das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht, droht zu zerbröckeln.

Die Antwort ist auch aus unserer Sicht eine neue Aufgabenteilung: Selbstverantwortliche Bürger nehmen allein oder mit anderen ihr Schicksal in die Hand und gestalten die Gesellschaft um. Neben die verstaatlichte Solidarität tritt erneut die private, wird das Füreinander betont. Im Ehrenamt - freiwillig - werden in demokratischer Selbstorganisation wichtige Aufgaben für das Gemeinwohl wahrgenommen: in Nachbarschaftszentren, in der Alten- und Jugendbetreuung, in der Betreuung von besonders Bedürftigen - Armen, Kranken, Marginalisierten, seelisch Leidenden; in der Freizeitgestaltung und Sinnvermittlung - Sport, Kultur, Musik, Umweltschutz, Tierschutz; im Rettungs- und Sicherheitswesen. Die Aufgaben für die Selbstorganisation im freiwilligen Ehrenamt sind umfangreich. Der Staat würde dadurch entlastet - er könnte sich auf seine ureigene Aufgabenstärke besinnen, für die er heute dramatisch wenig Geld hat: die Justiz, die Sicherheit, die Bildung, die Außenpolitik, um nur einige zu nennen; und er könnte seine Apparate schlanker gestalten.

Wie Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, wo die Debatte um die Bürgergesellschaft, die civil society, seit längerem geführt wird, sind die Menschen bereit mitzutun. Vor allem die nicht oder nicht mehr in der Erwerbsarbeit stehenden Männer und Frauen "in den besten Jahren" geben gerne ihr Können und ihre Zeit fürs Ehrenamt. Wie die Sozialforschung in Österreich zeigt, sind auch 60 Prozent unserer Bevölkerung zur freiwilligen Arbeit für andere, aber auch im eigenen Interesse, bereit: Sie bringen sich ein und erhalten Freude und Lebenssinn zurück. Mehr Frauen als Männer engagieren sich - der grüne Vorwurf, die Bürgergesellschaft sei männlich, ist töricht.

In Österreich hat die Debatte im übrigen erst begonnen. Die Menschen sind neugierig geworden, was sich hinter dem Begriff verbirgt; die neuen Aufgabenteilungen, die Verantwortung, die sinnvoll erlebte Arbeit für andere - das alles ist reizvoll. Aber man kann mit dem Begriff noch nichts konkret verbinden. Bürgergesellschaft, was heißt das? Manche fühlen sich vom Gemeinsinn bestätigt. Machen fürchten eine Pflicht zur Gemeinwesenarbeit. Es liegt nun an uns, die Vorurteile abzubauen, den Begriff und seine Inhalte den Menschen näher zu bringen.

Da gibt es eben die Individualisten, die vom Gemeinsinn und der Arbeit für das Gemeinwohl nichts wissen wollen: "Laßt uns endlich in Ruhe!" - Okay, wir lassen sie gerne in Ruhe: Ehrenamt ist immer freiwillig. Da gibt es die staatlichen Apparate, die ihren Bestand verteidigen und das Ehrenamt als zu wenig professionell verunglimpfen, in Wahrheit aber ihren Arbeitsplatz verteidigen. Und da sind schließlich die Machtträger, die um ihren Einfluß fürchten. Ihnen allen wird zu begegnen sein. Die Zwänge zur Begrenzung des Molochs Staat, aus welchen Gründen immer, sind so stark, daß niemand die Bürgergesellschaft wird aufhalten können.

Der Parteiobmann der Volkspartei, Wolfgang Schüssel, hat daher Erwin Pröll, Josef Pühringer und mich beauftragt, ein Aktionsprogramm zu entwerfen und dem Parteivorstand im April vorzulegen: Was bedeutet aktive Bürgergesellschaft in der Praxis, was wollen wir damit erreichen, welche Maßnahmen sind dazu nötig? Wir arbeiten derzeit intensiv mit 40 Fachleuten aus allen Bereichen der Gesellschaft an einem Bürgermanifest der Volkspartei zusammen. Unsere Vision der Bürgergesellschaft, geprägt von einer neuen Aufgabenteilung zwischen dem Staat und seinen Aktivbürgerinnen und -bürgern, wird damit konkret. Als Vision für eine Solidargesellschaft, in welcher das Füreinander wieder seinen Stellenwert erhält, in der menschliche Wärme dem kalten anonymen Apparat gegenübersteht - eine Solidargesellschaft, die auf einem sicheren Wertefundament ruht.

Der Autor ist Klubobmann der ÖVP.

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