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Was wäre gewesen, wenn Mozart nicht erst vier gewesen wäre, als er erste kleine Stücke komponierte, knapp sechs, als er zum ersten Mal in Salzburg auftrat, neun, als er seine erste Oper vollendete, und 13, als man ihn zum Konzertmeister machte? Er wäre wohl dennoch einer der größten Komponisten aller Zeiten geworden - aber kaum ein Mythos (dazu das nächstwöchige Dossier). Das vorliegende Dossier versucht, diese Faszination von "Wunderkindern" zu fassen - und auch die Probleme "ganz normaler" Hochbegabter aufzuspüren. Redaktion: Doris Helmberger Rudolf Taschner über Jahrhundertereignisse wie Leonardo Da Vinci, Carl Friedrich Gauß, Hugo von Hofmannsthal oder Wolfgang Amadeus Mozart - und das ganz normale Wunder Kind.

Leonardo war ein Wunderkind: Er hatte bald alles begriffen, was sein Lehrer Verrocchio ihm beibringen konnte, und noch mehr. Im Bild von der Taufe Christi, das Verrocchio für die Mönche von Vallombrosa entwarf, wurde der auf der linken Seite kniende Engel von Leonardo eingefügt. Als Verrocchio diesen sah, erkannte er die große künstlerische Überlegenheit gegenüber seinem eigenen restlichen Werk, was ihn der Legende nach dazu veranlasste, der Malerei für immer abzuschwören.

Gauß war ein Wunderkind: Er war Sohn einfacher Leute. Die Mutter, eine leseunkundige, jedoch hochintelligente Tochter eines armen Steinmetzes, arbeitete als Dienstmädchen, und sein Vater war Gärtner. Als Dreijähriger hat Gauß bereits den Vater bei der Lohnabrechnung korrigiert. Mit neun Jahren löste er sekundenschnell die vom Lehrer Büttner gestellte Aufgabe, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Mit zwölf Jahren misstraute er den Axiomen Euklids und ahnte mit 16 Jahren, dass es neben der euklidischen noch eine andere Geometrie geben muss.

Pseudonyme Publikation

Hofmannsthal war ein Wunderkind: In einer angesehenen Familie aufgewachsen bleibt ihm die Schule zunächst erspart. Er besuchte erst als Zehnjähriger das Wiener Akademische Gymnasium, las ungeheuer viel, war in Umgang und Intellekt frühreif und ein ausgezeichneter Schüler. Früh begann er Gedichte zu schreiben. Da er als Schüler nicht veröffentlichen durfte, wurden sie unter Pseudonymen in der Presse gedruckt. Binnen kurzer Zeit galt er als Genie. Sein früher Ruhm als Lyriker und Dramatiker verbreitete sich blitzartig. An seinem Frühwerk wurden lange Zeit seine späteren Schriften gemessen.

Mozart war ein Wunderkind: Mit sieben Jahren begann seine erste Tournee durch die deutschen Lande und die Länder Westeuropas, auf der er seine ersten Klaviersonaten und eine Symphonie komponierte; mit zwölf Jahren konnte er bereits drei Opern und eine Messe als formvollendete Werke vorweisen. Kürzlich schrieb Nikolaus Harnoncourt: "Für mich gibt es keinen ,jungen' Mozart, wo etwas noch nicht ausgereift wäre, und für mich gibt es keine ,minderen' Werke, nicht nur, was die Opern betrifft, sondern in allen Sparten." Mozarts Frühwerke sind Meisterwerke, von perfekter Harmonie und großer musikalischer Ausdruckskraft, die eine hohe Kunst des Musizierens erfordern.

Wunderkinder wie die genannten vier sind Jahrhundertereignisse. Vor allem, weil es sich um Wunderkinder handelt, die wie aus dem Nichts völlig Neues, Unerwartetes und dies in höchster Vollendung schaffen. Wunderkinder im Felde der Interpretation fremder Meisterwerke oder im Bereich außerordentlicher Fertigkeiten gibt es weitaus mehr: Robert James Fischer im Schach, Jascha Heifetz auf der Violine, Romy Schneider im Schauspiel, die Liste lässt sich problemlos verlängern. Bei den Letztgenannten ist der Übergang zu hoch-und höchstbegabten Kindern fließend, während die oben genannten vier, die unvergleichlich mehr den Namen "Wunderkind" verdienen, wie aus einer anderen Welt zu uns gesandt sind.

Bei Hoch-und Höchstbegabten kann die Anlage in Bereichen auftreten, die Normalsterblichen seltsam anmuten: Der fünfjährige John von Neumann wurde bei Partys der wohlhabenden Eltern wie ein Zirkuspferd als kleines Genie vorgeführt. Der Papa riss aus dem Telefonbuch eine Seite heraus, gab sie dem Buben für fünf Minuten, und danach konnte der Kleine zum Erstaunen aller Anwesenden auswendig sowohl alle Telefonnummern der darauf bezeichneten Personen aufsagen als auch die Namen zu beliebigen ihm genannten Telefonnummern der Seite nennen. John von Neumann wusste sein fotografisches Gedächtnis und seine außerordentliche Begabung für sinnvollere Zwecke anzuwenden, als nur als Gesellschaftsattraktion zu dienen - und wurde ein herausragender technischer Mathematiker und Spieltheoretiker. Das muss nicht immer so sein. Manchmal wissen Hochbegabte und ihre Eltern und Lehrkräfte nichts mit dem Talent anzufangen, sodass aller vielversprechenden Anfänge zum Trotz keine außerordentliche Karriere folgt (und niemand weiß, ob dies nicht manchmal auch ein Glück sein kann).

Schwindende Talente

Paul Erdös, ein glänzender und wegen seines bizarren Lebenswandels höchst eigenartiger Mathematiker, wurde einmal gefragt, ob es wahr sei, dass er im Kopf zwei vierstellige Zahlen miteinander multiplizieren könne. "Jetzt nicht mehr, aber als ich vier war, konnte ich es", antwortete er. Im hohen Alter konnte Erdös wirklich nicht mehr ähnlich gut rechnen wie als Kind - aber dafür hatte er ein Gefühl dafür erworben, wie die Primzahlen aufeinander folgen, und dies ist mathematisch weitaus wertvoller. Auch das ist bei höchstbegabten Kindern typisch: ihre bemerkenswerten Talente schwinden entweder, oder sie wandeln sich vom Kindhaften zum Reifen. Nur in ganz wenigen Disziplinen ist ein derartiger Wandlungsprozess kaum vonnöten: die Informatik mit Bill Gates als Paradigma dürfte das vielleicht ausgeprägteste Beispiel einer "kindischen Wissenschaft" sein.

Künftige Karrieren

Schließlich ist bei vielen Hoch-und Höchstbegabten gar nicht erkennbar, welche Spezialbegabung sie besitzen. Oft sind sie mehrfach höchst talentiert und in der Entscheidung ihrer künftigen Karriere auf Anstöße von außen angewiesen. Hier ist die Verantwortung der Eltern, der Schule sowie aller, die dem Kind als Vorbild dienen, gefordert, denn neben der Entwicklung der Talente bleibt als höchstes Ziel immer noch, dass dem künftigen Erwachsenen mit seinen Begabungen das Tor zu einem glücklichen und erfüllten Leben offen steht.

Bei Wunderkindern wie Leonardo, Gauß, Hofmannsthal, Mozart hingegen ist alles anders:

Mozart hatte durch seinen Vater eine exzellente musikalische Erziehung erfahren, Gauß wuchs in einer Umgebung auf, die von Mathematik nicht die leiseste Ahnung hatte - beide entwickelten sich einzigartig, weil ihr Wesen so angelegt war. Es hat keinen Sinn, eine Schule für Wunderkinder einrichten zu wollen.

Doppeltes Leben

Leonardo wuchs im Umfeld der Meister der Renaissance auf, Hofmannsthal lernte schon als junger Mann Hermann Bahr, Arthur Schnitzler kennen - wir wissen nicht, was aus ihnen geworden wäre, wären sie diesen Einflüssen nicht ausgesetzt gewesen, aber wir dürfen annehmen, dass sie, in einer anderen Zeit geboren, ähnlich Außerordentliches vollbracht hätten.

Wunderkinder sind so selten, dass keine Statistik bei ihnen greift, keine Regel aufgestellt werden kann, wie sich ihr Leben gestaltet, keine Prognose sinnvoll ist, wann wir in welchem Bereich die Epiphanie des nächsten erwarten dürfen.

Nur eines scheint zu stimmen: Wunderkinder haben eine Art doppeltes Leben zu ertragen: das Leben des Vermittlers einer gleichsam überirdischen Botschaft und das Leben eines Menschen, der so normal sein möchte wie alle anderen Menschen auch - oder jedenfalls so normal, wie das Wunderkind alle anderen Menschen empfindet. Dies kann später zu schwersten Krisen führen: Zur Unfähigkeit, sich mitzuteilen, wie sie Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos beschrieb. Zur Existenz in mehreren Welten: Mozart erfährt, dass sein über alles verehrter Vater stirbt, und komponiert wenige Tage später "Ein musikalischer Spaß". Zur Vereinsamung, weil es niemanden gibt, der dem einstigen Wunderkind nahesteht: Michelangelo, der einzige, der es mit Leonardo aufnehmen könnte, ist ihm feindlich gesinnt; Gauß anerkennt keinen Zeitgenossen als ebenbürtig, vielleicht noch Eisenstein, aber der verstarb in jungen Jahren ...

Schließlich: Niemand kritisiert einstige Wunderkinder strenger und unbarmherziger als sie sich selbst. "Ich habe Gott und die Menschheit beleidigt, denn meine Arbeit erreichte nicht die Qualität, die sie hätte haben sollen", bedauert Leonardo.

Ganz normale Wunderkinder

Zuletzt aber ist zu bedenken, dass wir von fern Wunderkinder nur dann als solche erkennen, wenn diese in objektiven Maßstäben, wie sie zum Beispiel Malerei, Mathematik, Dichtung, Musik setzen, Phänomenales zu vollbringen versprechen. Aber in Wahrheit ist jedes Kind - das hochbegabte genauso wie das normale, das gesunde genauso wie das behinderte - ein Wunderkind. Jedenfalls in den Augen seiner Mutter. Die Frage, worin es ein Wunderkind sei, hat außerhalb des Paares Mutter-Kind nichts zu suchen, und innerhalb stellt sie sich nicht, die Existenz des Kindes genügt. Es wäre indezent, mehr Worte darüber zu verlieren.

Der Autor ist Professor am Institut für Analysis und Scientific Computing an der TU Wien, Lehrer am Wiener

Theresianum, Begründer des "math.space" im Wiener Museumsquartier und "Wissenschafter des Jahres 2004".

BUCHTIPP:

Der Zahlen gigantische Schatten Mathematik im Zeichen der Zeit Von Rudolf Taschner. Vieweg Verlag, Wiesbaden 2004. 198 Seiten, geb., e 41,10

BUCHTIPP zu Carl Friedrich Gauß:

DIE VERMESSUNG DER WELT. Von

Daniel Kehlmann. Rowohlt, Reinbek 2005. 300 Seiten, geb., e 20,50

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