Aus stolzen Kumpeln wurden Museumwärter

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Der Weg in die EU ist für Tschechien trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung hart. Das ist besonders in der nordmährischen Industrieregion Ostrava (Ostrau) zu spüren.

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Der Weg in die EU ist für Tschechien trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung hart. Das ist besonders in der nordmährischen Industrieregion Ostrava (Ostrau) zu spüren.

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So hatte sich der Pensionist seinen Lebensabend nicht vorgestellt. Jeden Abend muss er sich pünktlich um 17 Uhr auf dem Firmengelände einfinden. Die graue Regenjacke liegt ordentlich zusammengefaltet auf dem Tisch, im Rucksack verwahrt ist die Ration für die nächsten zwölf Stunden: zwei Jausenbrote und ein Apfel. Der pensionierte Bergmann hat Tätigkeit und Arbeitszeit gewechselt, er bewacht nachts den Eingang seiner einstigen Arbeitsstätte. Der Anselmschacht im mährischen Ostrava (Ostrau), einst eine riesige Abbaustätte von Steinkohle, ist jetzt ein Museum, das größte in der ganzen tschechischen Republik. Ausgediente Schaufelbagger und Bohrer liegen auf dem Zechengelände herum, das Rad des großen Förderturmes steht für immer still. Jeden Tag im Sommer bevölkern viele Besucher - oft sind es ehemalige Bergleute mit ihren Familien - das Gelände. Mit dem Kohlenbergbau ist es zu Ende in Ostrau, alle Zechen sind stillgelegt. Nur im nahe gelegenen Karvina wird noch gefördert.

Der Bergmann, der jetzt beim Wachdienst beschäftigt ist, hat 38 Jahre auf der Zeche geschuftet, mit 17 fuhr er zum ersten Mal in den Schacht ein. Harte Arbeit für gute Bezahlung. Die Bergarbeiter in den Kohlengruben von Ostrava waren die Großverdiener der Stadt. In den Zeiten des Kommunismus verdienten sie wesentlich mehr als die anderen Arbeiter. Die Mahlzeiten kosteten nichts, die Wohnungen waren fast gratis.

Alle zwei Jahre hatten die Kumpel Anspruch auf einen Erholungsaufenthalt in einem Kurort. Nichts ist davon geblieben. 1990 wurden die Kohlengruben geschlossen, die Arbeiter entlassen oder in Pension geschickt. Ein wenig mehr als 3.000 Kronen (rund 1.250 Schilling) erhält der Bergmann nun jedes Monat. Das Existenzminimum liegt bei 2.500 Kronen. Diese Pension reicht kaum zum Leben. Vergünstigungen und das Kohledeputat wurden gestrichen. Um zu überleben, arbeitet er nun einige Wochen beim Wachdienst.

Der pensionierte Bergmann ist kein Kommunist, aber für das neue System hat er nichts übrig: "Es ist schlecht bestellt um die sogenannte Demokratie, und besonders schlimm ist es für die kleinen Leute. Die Gehälter und Pensionen bleiben gleich, doch Mieten und Preise steigen jedes halbe Jahr." Schlimm in Ostrava ist es aber nicht nur für die Alten, sondern auch für die Jungen. "Das Traurigste ist für mich der Sommerbeginn. Dann beenden die jungen Leute die Schule und finden nichts außer Gelegenheitsarbeiten", erzählt er niedergeschlagen.

Die Arbeitslosigkeit im Bezirk ist mit 18 Prozent doppelt so hoch wie der tschechische Durchschnitt. Es sind nicht nur die geschlossenen Kohlengruben, die für die schwere Krise der nordmährischen Industriemetropole verantwortlich sind. Im Vorort Vitkowice befindet sich das riesige Stahlwerk in der Phase der Auflösung. Verrostende Hochöfen und zerfallende Rohrleitungen, kaputte Traversen und eingeschlagene Mattglasscheiben - noch im Zerfall ist an manchen Gebäuden die Schönheit der alten Industriearchitektur erkennbar.

Doch es gibt auch Neues. Eine Brücke wird saniert, das Geländer glänzt neu gestrichen, der Belag der Zufahrtsstraße wird erneuert. Martialisch patrouillieren schwarz gekleidete Mitglieder privater Wachdienste mit Hunden herum. Sie beschützen die Filetstücke der Konkursmasse, die für die neuen Investoren in Schuss gebracht werden, vor unerwünschten Eindringlingen.

Grundstücke saniert Eine positive Konsequenz ist auch das größere ökologische Bewusstsein, das sich auch in Ostrau bemerken lässt. Bis vor wenigen Jahren war Ostrava - die "schwarze Stadt" - berüchtigt für hohe Luftverschmutzung. Wer sich heute auf die Aussichtsplattform des Rathauses begibt, der schaut auch wieder in den blauen Himmel. Nur ein paar Dampfwolken sind zu sehen, von schwarzer Stadt keine Spur. Aus Rücksicht auf die potentiellen Käufer der Anlagen wird jetzt auch darangegangen, die verseuchten Grundstücke zu sanieren.

Ostrava ist repräsentativ für die Probleme des tschechischen Umgestaltungsprozesses, den alle Staaten in Mittel- und Osteuropa nach 1989 durchmachten. Das Wegbrechen der Absatzmärkte im Comecon und die drastische Erhöhung der Energiekosten belasteten die Wirtschaft enorm. Die Umorientierung der Wirtschaft nach Westen und eine Schwerpunktverlagerung wurde durch die Verhältnisse erzwungen. Das alles konnte nur mit großen Anstrengungen erreicht werden. Als man sich schon auf dem Weg der Gesundung wähnte, warf im Jahr 1998 eine schwere Rezession die tschechische Wirtschaft neuerlich zurück.

Gezogen von der westeuropäischen Wirtschaftslokomotive gewann auch die tschechische Wirtschaft ab der Mitte des Jahres 1999 wieder an Fahrt. Die wirtschaftlichen Kenndaten sind positiv, die Kurven gehen nach oben. Ob die tschechische Wirtschaft ihre Rezession aber dauerhaft überwunden hat, ist noch nicht sicher.

Die Regierung geht nun daran, den Finanzsektor zu sanieren. Um die Situation der verschuldeten Unternehmen zu bereinigen, wurde eine staatliche Sanierungsagentur geschaffen. Diese soll nun entscheiden, welchen Unternehmen unter die Arme gegriffen wird. Das vom tschechischen Finanzministerium forcierte Revitalisierungsprogramm erfolgt unter klaren marktwirtschaftlichen Vorgaben, die Linie in der Agentur geben zwei amerikanische Consultantfirmen vor. "Hier wird nach wirtschaftlichen, nicht nach politischen Kriterien entschieden. Zuerst schaut man, welche Unternehmen noch sanierbar sind. Deren Schulden kauft die Sanierungsagentur und erhält im Gegenzug Eigentumsanteile. Und für diese Anteile sucht man potente ausländische Eigentümer zu finden", erläutert Josef Poeschl, Osteuropaexperte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Im Rahmen dieses Programms wurden einige der schwer verschuldeten Flaggschiffe der tschechischen Wirtschaft zu sanieren versucht, darunter die Automobilfabrik Tatra und das Traktorenwerk Zetor in Brno (Brünn).

Viel wichtiger ist aber der Umwandlungsprozess der tschechischen Wirtschaft. Chancen in der Zukunft haben nicht mehr die alten Industriegiganten, sondern die neuen kleineren Einheiten, die unter vollkommen anderen Umständen mit Hilfe ausländischer Partnerfirmen entstehen.

Lockruf an Investoren Auf den Rettungsanker ausländische Investition hoffen in Tschechien alle Regionen. Daher werden die Investoren von Seiten der Regierung mit Investitionsförderungen, Steuernachlässen und Prämien hofiert. Nur sind nicht alle Gebiete gleich attraktiv. Während Praha (Prag) und seine Umgebung ein enormes Wirtschaftswachstum und fehlende Arbeitskräfte zu verzeichnen hat, ist das Interesse an Nordmähren viel geringer. Das liegt an der Randlage und der schlechten Verkehrsanbindung von Städten wie Ostrava.

Die regionale Situation wirkt sich auch auf die Chancen der Menschen aus. "Die tschechische Gesellschaft ist gespalten in Leute, die vom Wirtschaftswachstum profitieren können. Die fühlen sich bei den neuen Möglichkeiten wie ein Fisch im Wasser. Sie beherrschen Sprachen, können mit EDV hervorragend umgehen und setzen ihre technischen Kenntnisse gut ein. Sie sind optimistisch - und manche trauen sich sogar an eine Betriebsgründung heran. Andere haben diese Fähigkeiten überhaupt nicht. Sie halten an ihrem Wohnsitz fest oder müssen daran festhalten, weil sie dort, wo es Arbeit gibt, keine Wohnung finden. Für die wird es sehr schwer," erläutert Poeschl.

Der bevorstehende EU-Beitritt wird diese regionalen Differenzen kaum verringern. Und eine Chance wird er nur für die Jungen, Ausgebildeten bieten. Der pensionierte Bergmann erhofft sich davon nichts. "Für die einfachen Leute wird das nichts bringen. Denn die Regierung wird wieder bei den sozial Schwachen sparen, um die wirtschaftlichen Kriterien für die Aufnahme zu erfüllen", wischt er resignierend alle Aufschwungseuphorie beiseite.

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