Bahnbrecher des Zeitzeugnisses

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Fünf Jahre liegt sein letzter Film zurück: In "Der letzte der Ungerechten" ließ Claude Lanzmann den Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein vier Stunden lang zu Wort kommen. Dieser erlangte als Judenältester im KZ Theresienstadt zweifelhafte Berühmtheit und wurde nach dem Krieg vor allem von jüdischer Seite als Kollaborateur mit den Nazis gebrandmarkt. Doch Lanzmann war es nie um platte Schuldzuweisung zu tun, sondern gerade dieser Film zeigte, wie schmal der Grat zwischen Gerechten und den Schuldigen war. Zwölf Jahre zuvor hatte Lanzmann mit "Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" dem einzigen erfolgreichen jüdischen Aufstand in einem Vernichtungslager ein Film-Denkmal gesetzt - auch hier via einem Interview mit dem Sobibor-Überlebenden Yehuda Lerner, das er mit den trostlosen Bildern aus dem ostpolnischen Dorf Sobibór anno 2001 gegenschnitt.

Gegen Ästhetisierung des Grauens

Sowohl das Interview mit dem 1989 verstorbenen Murmelstein wie mit dem heute in Israel lebenden Lerner hatte Lanzmann ursprünglich für sein Opus Magnum, den neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah" (1985) interviewt. Der Titel wurde synonym für die Judenvernichtung verwendet, und der Film erwies sich als bahnbrechend: Nur in Interviews von Opfern, Tätern und Mitläufern gelang es Lanzmann, eine Ahnung des Geschehenen zu vermitteln. Lanzmann wandte sich mit seinem Monumentalwerk auch gegen eine Ästhetisierung des Grauens, die er etwa Steven Spielbergs "Schindlers Liste" vorwarf.

Neben dieser radikalen Verweigerung jedweder Behübschung der Judenvernichtung gelang Lanzmann mit "Shoah" auch ein wegweisendes Zeitzeugnis, nicht zuletzt mit den Erzählungen von Jan Karski (1914-2000), jenem polnischen Widerstandskämpfer, der den Alliierten bis hinauf zu Präsident Franklin D. Roosevelt als Augenzeuge von der Judenvernichtung berichtete, aber damit nicht durchdrang. Karski hatte -aus Enttäuschung über seine Erfolglosigkeit - sich jede öffentliche Äußerung versagt, dank Lanzmann blieb sein Zeugnis für die Nachwelt erhalten.

Claude Lanzmann hat sich durch "Shoah" ins Weltgedächtnis eingeschrieben. Der in der Résistance aktive Philosoph und Publizist gehörte aber auch dem Freundeskreis von Jean-Paul Sartre an, mit Simone de Beauvoir unterhielt er eine Liebesbeziehung, er war Mitherausgeber von deren Zeitschrift Les Temps modernes. Er engagierte sich u. a. gegen den Koreakrieg und rund um den Algerienkrieg gegen den Kolonialismus.

Am 5. Juli ist Claude Lanzmann 92-jährig in Paris verstorben.

(Otto Friedrich)

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