Balance zwischen Mangel und Perfektion

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In der Medizin herrscht ein falsches Menschenbild. Ein Gespräch mit dem Ethnomediziner Wulf Schiefenhövel.

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In der Medizin herrscht ein falsches Menschenbild. Ein Gespräch mit dem Ethnomediziner Wulf Schiefenhövel.

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dieFurche: Herr Professor Schiefenhövel, Sie widersprechen der oft geäußerten Ansicht, der Mensch sei im Vergleich mit den Tieren ein Mängelwesen. Warum?

Schiefenhövel: Der Mensch ist kein Mängelwesen, weil er ein genauso optimiertes Produkt der Evolution ist wie jedes Tier auch. Wir sehen uns nur als Mängelwesen, weil wir unsere eigenen Defizite ständig wahrnehmen und betrauern. Aber wir sind hervorragend durch die Prozesse des evolutionären Geschehens konstruierte Lebewesen. Hubert Markl hat einmal gesagt: Wir sind Volltreffer der Evolution. Und das ist wahr, wenn man sieht, daß wir uns praktisch in allen klimatischen Zonen der Erde behaupten können. Wir sind Universalisten, Spezialisten auf Unspezialisiertheit. Wir sind also überhaupt kein Mängelwesen.

Das Problem ist, daß die Natur nicht Wesen hervorbringen kann, die in jeder Weise ideal sind, sondern Wesen, die für bestimmte ökologische Nischen so gut angepaßt sind, wie es erforderlich war. Deswegen können wir nur in zehn Sekunden 100 Meter laufen, wenn wir besonders gut trainiert sind, und nicht so schnell wie ein Leopard. Und deswegen haben wir unter Krankheiten zu leiden, denn unsere Aufgabe ist: Nachkommen zu haben, und die kann man mit ungefähr 30 bis 40 Jahren gehabt haben. Die Übertragung unseres Wissens und dessen, was wir gelernt haben, auf die Kinder ist mit ein Grund dafür, daß wir überhaupt so alt werden.

dieFurche: Was bedeutet diese Sicht für die Medizin? Wie müßte eine evolutionäre Medizin aussehen?

Schiefenhövel: Die evolutionäre Medizin müßte Sensibilität dafür entwickeln, daß der Mensch primär mit einem Organismus ausgestattet ist, der erstaunlich gut funktioniert. Die Balance aller Lebensvorgänge ist uns normalerweise gegeben: Selbst wenn wir gesündigt haben mit Alkohol oder fettem Essen, schafft es der Organismus, wieder in die Balance zu kommen, sodaß wir leistungsfähig, fröhlich und glücklich und auch zu Leistungen geistiger Art fähig sind.

Solche Mechanismen funktionieren auch, wenn es Störungen gibt, wenn Krankheiten auftauchen. Die Heilungsfähigkeit des menschlichen Körpers ist erstaunlich groß. Sie reicht oft nicht aus, um uns vor bleibendem Schaden oder auch vor dem Tod zu bewahren. Und deswegen ist die Medizin so wichtig, denn niemand möchte auf die Errungenschaften der modernen Medizin verzichten. Wir haben absolut phantastische Dinge entwickelt: mit der Impfung, mit den Antibiotika und auch mit der invasiven Medizin im Operationssaal.

Das Problem ist, daß es bestimmte Bereiche gibt, wo das Leben von Menschen sich schneidet mit der Medizin, wo Kommunikation entstehen muß. Solche Bereiche sind zum Beispiel die Geburt oder die Frühkindheit. Und da ist die Frage, ob es nicht besser wäre für unsere hochentwickelte moderne Medizin, die evolutionsbiologischen Aspekte miteinzubeziehen; denn unsere Geburtshilfe ist nach wie vor von der Intervention bestimmt. Es werden in manchen Kliniken bis zu 30 Prozent Kaiserschnitte gemacht, wo vielleicht fünf oder acht Prozent wirklich erforderlich wären. Hier sehen Sie: Wir sind in unserer Medizin bestimmt von der Verfügbarkeit der Technologie, von der Dynamik dieser biomedizinisch-technischen Entwicklung; was technisch möglich ist, wird auch eingesetzt. Und ich denke, das ist eine falsche Sicht.

dieFurche: Und vielleicht ist das auch eine eurozentrische Sicht, die uns andere Erfahrungen gar nicht wahrnehmen läßt...

Schiefenhövel: Es ist natürlich die Sicht von hochentwickelten Industrienationen, die sich das alles leisten können. Weltweit gesehen ist die Geburt nach wie vor ein Geschehen, das sich im häuslichen Bereich abspielt, und wir müssen überlegen: Wie kann man das in Zukunft machen? Es ist ganz klar, wir können nicht im Busch an jeder sechsten Ecke eine Klinik bauen und da unsere Hochleistungsmedizin und Hochleistungsgeburtshilfe etablieren. Es wird also in diesen Ländern notwendig sein, daß bestimmte Entwicklungen, die wichtig sind für die Gesundheit von Mutter und Kind, nachvollzogen werden.

Ein sehr vielversprechendes Programm ist: Traditionelle Geburtsbegleiterinnen aus den Dörfern, die von den Frauen ausgewählt werden, abzuordnen für die Ausbildung an irgendeinem Zentrum, sie mit einigen Grundregeln in Berührung zu bringen und sie wieder zurückzuschicken in der Hoffnung, daß sie dann eine noch bessere Geburtshilfe machen als sie sie traditionellerweise schon gemacht haben.

Aber wir müssen natürlich auch für unsere eigene Situation hier in Europa planen und denken, und auch da gibt es ganz unterschiedliche Modelle. In Holland ist die Hausgeburt - die in Deutschland und Österreich heftig befehdet wird - etabliert, und die Sterblichkeitszahlen gehören mit zu den besten überhaupt. Aber es ist auch nicht nur die Frage der Mortalität, sondern auch eine Frage der Morbidität: Ist der Geburtsvorgang, wie wir ihn in einer technisch bestimmten Geburtshilfe erzeugen, so, daß er den biologischen, psychischen und sozialen Erfordernissen des Kindes und der Mutter entspricht?

dieFurche: Was wären denn Eckpunkte eines neuen Menschenbildes, das die Medizin aus Ihrer Sicht braucht?

Schiefenhövel: Die Medizin braucht das Bild, daß der Mensch primär nicht mangelhaft ist; das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Ich sehe das auch als eine Perspektive, die gegensteuern kann gegen die Tendenz, die wir derzeit in der Medizin haben, daß nämlich alle möglicherweise auftauchenden Erkrankungen bereits im Vorfeld durch pränatale Diagnostik und durch einen Eingriff behoben werden sollen.

Wir sind zwar kein Mängelwesen, aber bestimmte Mängel haben wir, und mit denen müssen wir uns anfreunden. Ich glaube, das ist der Punkt: Wir dürfen sowohl die Mängelseite nicht betonen, wir dürfen aber auch nicht die Perfektion betonen. Um diese Balance muß es gehen.

Wulf Schiefenhövel ist unter anderem Professor für Medizinische Psychologie und Ethnomedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrbeauftragter für Humanethnologie an der Universität Innsbuck und am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Andechs tätig.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

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