Behindert und gehindert

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Der Plan, gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen nur mehr an Polytechnischen Schulen zuzulassen, sorgt für Aufregung.

Maria Brandl ist der Kragen endgültig geplatzt. "Die österreichische Bundesregierung grenzt Jugendliche mit Behinderung von schulischen und beruflichen Bildungsmöglichkeiten aus", schrieb die geschäftsführende Vorsitzende des Vereins "Integration:Österreich" in einer Presseaussendung im Mai - und legte Dienstag vergangener Woche in einem offenen Brief an Bildungsministerin Elisabeth Gehrer noch ein Schäuferl nach: "Was veranlasst Sie, Ihre bildungspolitische Verantwortung nur für Jugendliche ohne Behinderung wahrzunehmen?"

Auslöser ihrer Entrüstung war ein jüngst vorgelegter Gesetzesentwurf, wonach die bisherigen Schulversuche zum integrativen Unterricht an weiterbildenden höheren Schulen eingestellt und nur an Polytechnischen Schulen ins Regelschulwesen übernommen werden sollen. "Das deckt das Spektrum der unterschiedlichen Bedürfnisse von jungen Menschen mit Behinderung nicht ab und bewirkt auch eine pädagogisch unsinnige Konzentration an wenigen Schulen", ärgert sich Brandl. "Damit werden die Polys zu absoluten Restschulen."

Aus für Schulversuche

Rund 1.600 Schülerinnen und Schüler seien von dieser neuen Regelung betroffen, schätzt "Integration:Österreich". Viele davon nahmen schon jetzt - je nach Schweregrad der Beeinträchtigung - an Schulversuchen in Berufsschulen, Polytechnischen, Landwirtschaftlichen und Berufsbildenden Mittleren Schulen teil. Vor allem diese Schultypen, und nicht etwa die AHS-Oberstufe, seien für diese Jugendlichen interessant, stellt man beim Verein "Integration: Österreich" klar.

Auch Brigitte Voglhofer vom oberösterreichischen Verein "Miteinander" übt am geplanten Gesetz Kritik: "Die Schulen lehnen die Integration sicher nicht ab. Sie bräuchten einfach mehr Ressourcen." Team-Teaching und geringere Klassenschülerzahlen seien die Voraussetzung dafür. Bislang seien diese Schulversuche allerdings weder ausreichend gefördert noch evaluiert worden, kritisieren die Behinderteneinrichtungen.

Derlei Kritik lässt VP-Bildungssprecher Werner Amon nicht gelten: "An den Polytechnischen Schulen waren die Schulversuche zum überwiegenden Teil positiv. Nicht positiv war der integrative Unterricht aber in der AHS und der BHS", erklärt er auf Anfrage der furche. "Die prinzipielle Frage ist ja: Was nützt es den behinderten Kindern?" Nach Ansicht Amons müsse man jedenfalls "alles tun, damit geistig eingeschränkte Kinder nicht nur aufbewahrt werden, sondern auch Erfolgserlebnisse haben und nicht überfordert werden." Statt Integrationsklassen in höherbildenden Schulen wünscht sich Amon mehr außerschulische Individualbetreuung. Die ÖVP bekenne sich jedenfalls zum differenzierten Bildungswesen: Gewisse Lehrziele seien von allen Schülern zu erreichen - unabhängig von einem ärztlichen Attest. Im Übrigen verstehe er die "unschöne Attacke" von "Integration:Österreich" nicht, habe doch im Vorjahr die SPÖ die Umsetzung des integrativen Unterrichts in der 9. Schulstufe zu Fall gebracht.

Tatsächlich war im Juni 2001 ein derartiger Entwurf im Parlament nach heftigen Kontroversen am Veto der Sozialdemokraten gescheitert: Sie hatten die Integrationsmaßnahmen als nicht weitgehend genug beurteilt und deshalb abgelehnt. Am 18. Juni soll nun eine fast wortidente Gesetzesvorlage den Ministerrat passieren, um dann dem parlamentarischen Unterrichtsausschuss zugewiesen zu werden.

SP-Wissenschaftssprecher und Ausschuss-Mitglied Erwin Niederwieser erteilt dem Papier schon jetzt eine Abfuhr: "Ich hielte es für verantwortungslos, diesem Gesetz zuzustimmen. Wir sind zu Kompromissen bereit - aber nicht bei einer Verschlechterung." Die Grundfrage sei, ob die Schule erweiterte Aufgaben in der Vorbereitung Behinderter auf das Berufsleben übernehmen solle oder nicht. Die Polytechnischen Schulen allein seien damit jedenfalls überfordert, ist Niederwieser überzeugt. Grundsätzlich sollten Eltern, Ärzte und Psychologen über die jeweilige Eignung eines Schülers oder einer Schülerin entscheiden. "Die Eile, geistig beeinträchtige Jugendliche ab 15 Jahren in der Schule loszuwerden, haben wir jedenfalls nicht."

Während also um die Sinnhaftigkeit integrativen Unterrichts an höheren Schulen noch gestritten wird, ist diese Form gemeinsamen Lebens und Lernens im Pflichtschulbereich seit 1993 gesetzlich verankert und auch weithin etabliert. "In unseren Volksschulen wird Integration gelebt. Wir haben die dazu nötigen Ressourcen und Möglichkeiten", erklärt die Amtsführende Präsidentin des Wiener Stadtschulrates, Susanne Brandsteidl. In anderen Schulformen wie den Berufsschulen und teilweise auch in den AHS, gehe es weniger um Abschlüsse oder die Matura als um die soziale Integration. Probleme sieht Brandsteidl vor allem in der mangelnden Anzahl von qualifizierten Lehrkräften im sonderpädagogischen Bereich.

Auch im Erzbischöflichen Amt für Unterricht und Erziehung in Wien wird Integration groß geschrieben. "Aber man muss differenzieren und genau schauen, was für das einzelne Kind richtig ist", erklärt Amtsleiterin Christine Mann. Für einige sei die Förderung in der Kleingruppe besser als der Unterricht in einer Integrationsklasse. "Wenn Philosophie zu Ideologie ausartet, dann wird es natürlich problematisch", meint Mann und betont gleichzeitig die gute Zusammenarbeit mit dem Wiener Stadtschulrat - auch wenn man dann und wann unterschiedliche Philosophien vertrete.

Dass die Begegnung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in jedem Fall Früchte trägt, zeigt indes die Initiative "I bin wer. - Du a! Alle Menschen sind wertvoll", die von ReligionslehrerInnen des Sonderpädagogischen Bereichs in der Erzdiözese Wien ins Leben gerufen wurde. Schülerinnen und Schüler sollten dabei die Einmaligkeit und die Würde, aber auch die Schutzwürdigkeit jedes Menschen, unabhängig von seiner Begabung und gesellschaftlichen Bedeutung, seines Alters, seiner Gesundheit oder seiner Herkunft erfahren.

Vergangene Woche präsentierten die Schüler von 29 Schulen in der Religionspädagogischen Akademie im 21. Wiener Gemeindebezirk insgesamt 33 Projekte, die sie im Lauf des zu Ende gehenden Schuljahres erarbeitet hatten. In den Gängen der Akademie waren ihre Arbeiten auf großen bunten Fotowänden ausgestellt. Während man im Festsaal sang und musizierte, selbst produzierte Filme zeigte und kleine Theaterstücke darbot, war draußen auf der Wiese ein Stationenparcours aufgebaut.

Eine der Spielenden war Kerstin. Seit Tagen freute sich die Schülerin der Schwerstbehindertenschule in der Paulusgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk, ihren Dennis wiederzusehen. Der Elfjährige besucht die Schwerhörigenschule im Hammerfestweg im 22. Wiener Gemeindebezirk und ist eines der "hörenden Kinder", die dort gemeinsam mit schwerhörigen Kindern im Rahmen einer "präventiven Integration" unterrichtet werden. Seit Beginn des Schuljahres treffen einander die Schüler dieser beiden Klassen.

Vor der ersten Begegnung hatten die Kinder beider Schulen Mappen gebastelt, in denen sie sich mittels Fotos und kurzen Beschreibungen vorstellten. Dennoch wäre das erste Treffen für die Kinder der Schwerhörigenschule "ein Schock" gewesen, erinnert sich Gabriele Hösch-Schagar, Religionslehrerin an der Schwerhörigenschule und eine der Hauptinitiatorinnen des Projekts "I bin wer. - Du a!" Auf dieses Ausmaß an körperlichen Beeinträchtigungen waren sie nicht eingestellt. Dennis sei etwa beim gemeinsamen Essen völlig der Appetit vergangen, "weil die anderen Kinder halt nicht so hübsch aussehen", erzählt Bettina Schilling, ebenfalls Religionslehrerin an der Schwerhörigenschule. Beim zweiten Treffen wären die Kinder einander bereits viel offener begegnet: "Die Person ist immer mehr in den Vordergrund und die Behinderung immer mehr in den Hintergrund gerückt", so Hösch-Schagar.

Offenheit und Charme

"Unsere Kinder sind sehr offen und schließen leicht und schnell Freundschaften", weiß Edith Stocker, seit 22 Jahren Lehrerin an der Schwerstbehindertenschule. Rund 100 Kinder aus ganz Wien werden hier in 20 Klassen unterrichtet. Die Schule ist auf die speziellen Bedürfnisse der Kinder eingerichtet. Zusätzlich zum herkömmlichen Unterricht gibt es auch eigene Therapien und Intensivunterricht.

Bei den regelmäßigen Treffen der beiden Klassen wurde gemeinsam gesungen und gespielt, gebastelt und gekocht. "Vor allem die schwerhörigen Kinder sind im Lauf des Projekts selbstbewusster geworden", so Hösch-Schagar. "Ihre Beeinträchtigung scheint fast aufgehoben, seit sie begonnen haben, den Schwerstbehinderten zu helfen." Auch Bettina Schilling hat Veränderungen bemerkt: "Unsere Kinder haben ihre Meinung über die anderen im Lauf des Projekts total geändert. Die schwerstbehinderten Kinder haben unsere einfach mit ihrem Charme eingewickelt."

"Wir hoffen, dass Freundschaften entstehen", zeigt sich auch die Direktorin der Schwerstbehindertenschule, Gabriele Christoph, optimistisch. "Die anderen Kinder können hier die Bedürfnisse und Handicaps unserer Kinder erleben - und lernen, dass man trotzdem befreundet sein kann."

Informationen zum Projekt "I bin wer - Du a!" bei Margarete Ettel, Amt für Unterricht und Erziehung der Erzdiözese Wien, unter (01) 515 52-3758 oder unter m.ettel@edw.or.at

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