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Das Neue Testament kann auch Gesellschaftsordnungen inspirieren. Insbesondere die Bergpredigt ist - für Christen wie für Glaubenslose - eine "Magna Charta für ein (ge)rechtes Leben". von helmut krätzl

Die Bibel ist kein harmloses Buch. Vielleicht blieb sie so lange verschlossen, weil sie zu viel geistigen Sprengstoff in sich birgt. Und doch haben gerade Menschen, von der Bibel inspiriert, immer wieder Gesellschaft und auch Kirche verändert.

Was für die Bibel überhaupt gilt, trifft in der so genannten Bergpredigt des Matthäusevangeliums besonders zu. Am bekanntesten sind die 8 Seligpreisungen (Mt 5,3-12) und das Vater unser (Mt 6,9b-13). Am schockierendsten ist wohl das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44 ) und der Rat, lieber die andere Wange zum Schlag hinzuhalten, als sich zu rächen. (Mt 5,38-42)

Entschärfungs-Versuche

Obwohl sich auch Nichtchristen, wie die Friedensbewegungen, auf Teile der Bergpredigt berufen, fehlt es nie an Versuchen, ihr die Radikalität zu nehmen. So behauptet man etwa, sie sei nicht wörtlich zu nehmen, nur im übertragenen Sinn. Oder man sieht darin nur ein individuelles Ethos. Dann aber kommt sie als Ordnung für die Gesellschaft nicht mehr in Frage. Sehr einleuchtend klingt die Warnung, ihre Befolgung sei für die Gesellschaft gefährlich, weil dadurch der Gewalt, der Anarchie Tür und Tor geöffnet würden. Und schließlich kann man die Bergpredigt dadurch entschärfen, dass man sie zur utopischen Gesellschaftsordnung umdeutet, die erst im Jenseits verwirklicht wird.

Solche Verharmlosungsversuche stammen auch von Christen, die sich als sehr fromm vorkommen. Wir leben ja mitten in der Welt, verteidigen sie sich, und haben ein Recht auf Sicherheit. Die Verpflichtung mag gerade noch für Orden gelten, schränken sie ein, nicht aber für Christen in der Welt. Vielleicht steckt auch der Irrtum dahinter, Glaube müsse keine (so) konkrete Konsequenzen für das Leben haben.

Die katholische Kirche selbst scheint auch offiziell ein zwiespältiges Verhältnis zur Bergpredigt zu haben. Manches nimmt sie ganz wörtlich, wie das Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32), nicht aber das Verbot des Schwörens (Mt 5,34). Die Kirche fürchtet, ein Engagement im Sinn der Bergpredigt könnte zu "politisch" ausgelegt werden. In ihrer "Äquidistanz" bevorzugt sie eher "diplomatisch verpackte" Aussagen, die, weil harmlos, von beiden Seiten akzeptiert werden können. Die Kirche tut sich schwer, die Radikalität der Bergpredigt in der Gesellschaft zu vertreten, weil sich dann in ihren eigenen Reihen, vielleicht sogar in ihrem Recht manches ändern müsste.

Nicht nur für Christen

Die Bergpredigt bleibt trotz allem faszinierend, weil sie eine neue Lebensordnung angibt, eine, die "gegen den Strich" des Üblichen geht. Eine Ordnung, durch die "Menschen mehr Mensch werden". Die Rede auf dem Berg deutet an, dass es mehr, als man sieht, "zwischen Himmel und Erde" gibt. Sie steckt ein sehr hohes Ziel, das nicht leicht, vielleicht nie ganz erreichbar ist, aber dennoch als Herausforderung "nach mehr" stehen bleiben soll.

Für Christen ist die Bergpredigt eine Wegweisung, wie die Schüler dieses "Rabbi Jesus" leben sollten. Dann würden sie Salz der Erde und Licht der Welt werden, wie es ja auch in der Bergpredigt heißt (Mt 5, 13f). Dann würden die Christen wahrhaftig verändernd, humanisierend auf die Gesellschaft wirken.

Wie aber könnte diese neue "Gesellschaftsordnung" aussehen?

Alternativen für das Leben

Die Bergrede in ihrer ganzen Radikalität zu "predigen" bedeutet zunächst, das Bewusstsein wach zu halten, dass es überhaupt eine andere Gesellschaftsordnung geben kann. Die Forderung nach Gewaltlosigkeit zum Beispiel ist die unüberhörbare Mahnung, immer zunächst die politische Lösung vor der kriegerischen zu suchen. Wer sich für Gewaltlosigkeit einsetzt, darf nicht vorschnell als Gegner aller Waffen eingestuft werden, sondern er will ein Anwalt dafür sein, die Vielfalt friedlicher Lösungsmöglichkeiten bis zum Letzten auszuschöpfen. Und hier gibt es erstaunliche Allianzen inmitten der Zivilgesellschaft zwischen Christen und Nichtchristen.

Die so schockierenden Worte über den Verzicht von Vergeltung müssten zur notwendigen Einsicht verhelfen, den Teufelskreis der Vergeltung endlich zu durchbrechen, da dieser nie zu einem friedlichen Ende führen kann.

Wenn die Barmherzigen selig gepriesen werden, dann lässt dies doch an eine neue Gesellschaft denken, in der viel öfter Gnade vor Recht geht. Und der Blick auf jene, die ein reines Herz haben, würde dem Verlangen nach mehr Ehrlichkeit, Transparenz und Lauterkeit in allen Bereichen des Lebens berechtigte Hoffnung geben.

Die Seligpreisung der Friedensstifter hat weit über die Christen hinaus Echo und Faszination gefunden. Braucht die Gesellschaft nicht dringend solche, die Gräben zwischen Andersdenkenden schließen, Versöhnungsarbeit leisten, wo Menschen entzweit sind, die Brücken selbst zu Feinden bauen?

Am Ende der Seligpreisungen werden auch jene selig genannt, die "um Jesu willen" beschimpft und verfolgt werden Hier muss man nicht gleich an "Christenverfolgung" denken, sondern an den wachsenden, oft polemischen Widerspruch, wenn andere Werte, als in der "Welt" üblich, geltend gemacht werden.

Christen in der Gesellschaft

Christen, die die Bergpredigt ernst nehmen, könnten auch zu einer Gesinnungsänderung in der Gesellschaft beitragen. Politik, in der Demokratie "vom Volk verantwortet", richtet sich meist nach dem momentanen Verständnis der (auch leicht zu manipulierenden) Masse. Politik kann nur durchsetzen, was im Volk auch einen gewissen Resonanzboden hat. Der neutrale Staat braucht für die Garantie von Freiheit Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Er ist dabei auf die Zivilgesellschaft angewiesen.

Die christlichen Kirchen haben auf Grund ihrer Lehre (der Bibel), aber auch ihrer Bildungseinrichtungen das weltweit größte Netz für die Beeinflussung der Meinung der Menschen durch Verkündigung, Schulen, Religionsunterricht, Erwachsenenbildung, Medien. Und von den zahllosen Gottesdiensten rund um die Erde, müssten, wenn sie auch in ihrer Verantwortung für die Welt gesehen werden, stärkste Impulse zur Veränderung der Gesellschaft ausgehen.

Noch nachhaltiger würden die Christen zu einer Gesellschaftsänderung beitragen, wenn die Grundsätze der Bergpredigt in überzeugenden Modellen vorgelebt würden. Das versuchten in der Geschichte immer wieder Ordensgemeinschaften. Ist das heute noch von ihnen zu erwarten oder haben sie sich nicht zu oft dem "modernen" Lebensstil angepasst? Vielleicht haben sie deshalb so wenig Nachwuchs, wären wieder attraktiver, wenn sie radikaler lebten.

Berge versetzen

Heute sind Modelle, konkret nach dem Evangelium zu leben, eher von verschiedenen Basisgemeinden zu erwarten. So haben nach dem Konzil viele christliche Gemeinden in Lateinamerika erfasst, dass die Bibel ein Buch für das Leben ist und die Gesellschaft verändern kann. Dies fand einen theologischen Niederschlag in der sog. Befreiungstheologie. Die Kirche müsste solche Formen des alternativen Lebensstiles unterstützen, für ihre eigene Glaubwürdigkeit, aber auch als unersetzbare Hilfe für die Gesellschaft.

Nichts als eine Utopie?

Die Weisungen der Bergpredigt gehören wohl zu den Wunschträumen vieler Menschen guten Willens. Die Geschichte zeigt aber, dass sie kaum erfüllbar sind. An wen ist die Rede auf dem Berg ergangen? An jene Jünger, die sich zur Nachfolge Jesu entschlossen haben. Also scheint die Motivation, Jesus nachfolgen zu wollen, die wichtigste Voraussetzung zu sein, diese Weisungen erfüllen zu können. Das Wort Jesu "Ohne mich könnt ihr nichts tun" ist der Schlüssel dazu. Die Bergpredigt ist also das Kriterium echter Nachfolge Christi, aber auch Urteil darüber, wie sehr Kirche auf diesem Weg ist, oder davon abweicht.

Die Welt sucht heute nach einer neuen Gesellschaftsordnung. Woher soll sie kommen? Das Neue Testament, vorab die Bergpredigt ist die Magna Charta für ein (ge)rechtes Leben - für Christen wie für Glaubenslose. Das Jahr der Bibel soll das für möglichst viele verständlich machen.

Der Autor ist Weihbischof in Wien.

BUCHTIPP:

21 Autoren aus Politik (Alexander Van der Bellen ...), Wirtschaft (Hannes Adrosch ...), Religionen (Paul Chaim Eisenberg, Kal M. Woschitz ...) interpretieren die Visionen der Bergpredigt.

Kann die Bergpredigt Berge versetzen?

Hg. von Peter Trummer und Josef Pichler. Verlag Styria, Graz 2002, 280 Seiten, kt., e 16,90

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