Beschleunigung ist naturwidrig

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Kontrolle der Zeit, Beschleunigung, Pausenlosigkeit, Verlust der Rhythmen - all das beherrscht die moderne Lebensführung. Schnelligkeit, ständige Verfügbarkeit und Flexibilität sind Erfolgsfaktoren im Wettbewerb. Die Maxime zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet "Ich eile, also bin ich".

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Kontrolle der Zeit, Beschleunigung, Pausenlosigkeit, Verlust der Rhythmen - all das beherrscht die moderne Lebensführung. Schnelligkeit, ständige Verfügbarkeit und Flexibilität sind Erfolgsfaktoren im Wettbewerb. Die Maxime zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet "Ich eile, also bin ich".

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Fühlen sich aber nicht immer mehr Menschen unter dem Diktat der Zeit gestresst? Mehr als die Hälfte der Österreicher klagt über Stress. In Japan sind es bereits über 70 Prozent, in Deutschland ächzen fast drei Viertel unter dem Joch der Hektik. Umstrukturierungen und technologische Beschleunigung der Arbeitswelt führten nach einer Studie der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bei Arbeitnehmern häufig zu Depressionen und frühzeitiger Arbeitsunfähigkeit. Jeder zehnte Arbeitnehmer leide an Depressionen, Angstzuständen oder Stress und laufe somit Gefahr, krank oder arbeitslos zu werden.

"Eiligkeit, Zunahme an Beschleunigung sind zwar ein Symbol des Fortschritts geworden, aber so richtig wohlfühlen würden wir uns bei dieser Dringlichkeitsdynamik aber nicht", zieht Univ. Prof. Karlheinz Geißler, Wirtschaftspädagoge an der Universität München und Zeitforscher den Schluß. "Das Identitätsmuster des 21. Jahrhunderts ,Ich eile, also bin ich' verliert an Überzeugungskraft", ist Geißler überzeugt.

Durch technische Innovationen ist es gelungen, die Reisegeschwindigkeit um das Hundertfache zu erhöhen, die Datenverarbeitung um das Millionenfache zu steigern, die Geschwindigkeit der Kommunikation sogar um den Faktor 107 zu beschleunigen.

Informations- und Kommunikationsmedien wie Internet, E-Mail und Handy lösen Raum und Zeit auf und führen zu einem Leben im immer und überall. "Wie und wo soll noch beschleunigt werden, wenn wir beim Transport unserer wichtigsten Güter, der Informationen bei Lichtgeschwindigkeit angekommen sind?" fragt Geißler kritisch.

Da die Beschleunigung nun ausgereizt sei, gewinne nun "Multi-Tasking" an Bedeutung. "Wir machen nun mehrere Dinge gleichzeitig. Das Steigerungsprinzip des kalkulatorischen Zeitnutzens wird aber zur Bedrohung, und zwar ökonomisch, sozial und ökologisch!"

Die permanente Beschleunigung führt auch dazu, dass wir zunehmend das die Evolution bestimmende Prinzip von Versuch und Irrtum ignorieren und verletzen. "Wir nehmen uns nicht mehr die Zeit, Erfahrungen zu sammeln und zu bewerten," stellt Geißler nüchtern fest.

Dies sei aber unbedingt erforderlich, um das Machbare vom Verantwortbaren unterscheiden zu können. Die aktuelle und wiederholte BSE-Krise sei ein trauriges aber treffendes Beispiel dafür.

Die Tiermast wurde in den letzten beiden Jahrhunderten erheblich intensiviert. Während um 1800 die Mastdauer für ein Schwein mit einem Gewicht von 60 Kilogramm zwei bis fünf Jahre dauerte, gelang es bereits 100 Jahre später, das Mastendgewicht bereits auf 100 Kilogramm in nur 11 Monaten zu steigern. Weitere 90 Jahre später haben wir die Mastdauer noch einmal mehr als halbiert.

Diese Beschleunigung wurde in gleichen Teilen durch eine Auslese der Zuchttiere und durch die Fütterung erzielt. Dabei scheuten sich einige aber nicht, auch verunreinigtes Futter zu verfüttern.

Verbrennen, was in Jahrmillionen entstand Der belgische Dioxinskandal im Hühnerfleisch oder die Bleiwerte in französischer Gänseleberpastete belegen dies Ende der Neunziger Jahre. Welchen Preis sind wir bereit zu zahlen? Jenen für eine artgerechte Tierhaltung oder jenen für die Vernichtung von Tieren und für die Stützung der Märkte sowie für aufwendige Kampagnen, um das Vertrauen der Konsumenten wiederzugewinnen?

Wir hetzen uns und sparen bei alltäglichen Lebensmitteln, um uns dann im Wellness-Urlaub eine Rundumerneuerung zu gönnen.

Farnwälder im Karbon entzogen der Atmosphäre vor 325 bis 360 Millionen Jahren Kohlendioxid. Unter Luftabschluss bildeten sich aus diesen Farnwäldern die fossilen Kohlenstoffvorkommen wie Erdöl, Kohle und Erdgas. Milliarden Tonnen von Kohlenstoff gelangten auf diese Weise auf das Abstellgleis der Erdgeschichte.

In weniger als 200 Jahren seit Beginn der Industrialisierung haben wir es nicht nur geschafft, das Erdöl-Fördermaximum in einigen Regionen der Welt wie in den Vereinigten Staaten, in der Nordsee oder in Russland zu überschreiten, sondern auch die Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre um mehr als 30 Prozent zu steigern. Wir verbrennen die fossilen Kohlenstoffe 800.000 Mal schneller als sie zu ihrer Entstehung gebraucht haben.

Der Treibhauseffekt ist heute wissenschaftlich anerkannt. Ziele zur Reduktion der klimarelevanten Gase wurden in Kyoto 1997 beschlossen. 180 Staaten feilschten im letzten November in Den Haag darum, wie die Verpflichtungen nun konkret umzusetzen wären. Die sechste Konferenz scheiterte.

Die Klimaveränderungen sind bereits spürbar. Die Treibhausgase nehmen weiter zu. In Österreich betrugen sie 1990 rund 77 Millionen Tonnen. Österreich hat sich verpflichtet, seine Emissionen auf 67 Millionen Tonnen pro Jahr bis 2010 zu senken. Bei einem business as usual ist aber nach den Schätzungen des Klimabeirates mit einem Anstieg auf 83 Millionen Tonnen bis 2010 zu rechnen.

Im Dezember 2000 folgte die vierte UN-Vertragsstaatenkonferenz zur Bekämpfung der Wüstenbildung. "Die internationale Bodenschutzpolitik hinkt hinterher und führt noch ein Stiefmütterchendasein," kritisiert Univ. Prof. Winfried Blum von der Universität für Bodenkultur in Wien und Generalsekretär der Internationalen Bodenkundlichen Union.

Enorm rascher Abbau der Humus-Schicht "Es geht regional und global aber nicht nur um die Bekämpfung der fortschreitenden Wüstenbildung wie zum Beispiel in Afrika. Die Bodendegradation durch Versiegelung, Verdichtung, Überdüngung, Versalzung, Erosion und Altlasten muss gebremst werden, um die Balance mit den Bodenbildungsprozessen wieder herzustellen," macht Blum aufmerksam.

Für die Neubildung von fünf Zentimeter Boden werden im Mittel 500 Jahre benötigt. "Viele kommen jetzt erst langsam darauf, welche vielfältigen und wichtigen Funktionen die Böden haben," ergänzt Blum.

Im Vergleich zur Klimaschutzpolitik steht aber die globale Bodenschutzpolitik noch am Anfang. Aus dem Projekt der Evangelischen Akademie Tutzing im Jahre 1997 "Ökologie der Zeit" ist der konkrete Vorschlag zur Bodenkonvention entwickelt worden. Ziel ist es, den nachhaltigen Umgang mit den Böden zu fördern. "Die Bewirtschaftungsformen sollen standortgerecht die Bodenfruchtbarkeit erhalten und fördern, um die Nahrungsmittelerzeugung zu gewährleisten und nachwachsende Rohstoffe zu liefern," heißt in Artikel 2 der Bodenkonvention.

"Die internationale Debatte ist nun in Gang gekommen," freut sich Martin Held von der Evangelischen Akademie Tutzing. Analog zum Klimabündnis Europäischer Städte und Gemeinden wurde vor kurzem ein kommunales Boden-Bündnis ins Leben gerufen.

Auf dem Side Event zur UN-Vertragsstaatenkonferenz Vertragsstaatenkonferenz zur Bekämpfung der Wüstenbildung wurde auch die Gründung eines Intergouvernmental Panel on Land and Soil (IPLS) vorgeschlagen. "Analog zum Intergouvernmental Panel on Climate Change sollen weltweit Daten gesammelt und bewertet werden," fordert Blum.

Die hier zitierten Beispiele machen deutlich, dass die Beschleunigungstendenzen auch inzwischen unverkennbare Kehrseiten haben. Geißler plädiert für eine neue Kultur der Zeitvielfalt. "Schnelligkeit braucht Langsamkeit, Mobilität braucht Sesshaftigkeit".

Es geht darum, verschwundene Zeiten wie Langsamkeit, Wiederholungen, Warten können, Pausen machen wieder bewusst zu leben und ihre Produktivkraft zu entdecken. Menschen, Ökosysteme, Tiere brauchen ihre Eigenzeiten.

"Die Suche nach den rechten Zeitmaßen wird immer drängender" und beinhaltet die Suche nach dem "Angemessenen, nach den Gleichgewichten zwischen den dynamischen Verhältnissen," so Geißler. Eine nachhaltige Entwicklung werde nur gelingen, wenn die Menschen "fähig sind, die ihnen unverfügbaren Maßverhältnisse der Natur zu erkennen und sich in sie zu schicken. Denn wer zu schnell ist, den bestraft das Leben."

Der Autor ist Mitarbeiter von "Umwelt Management Austria".

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