Blick nach vorwärts, nicht zurück im Zorn

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Mit jeder Äußerung in Mimik und Gestik verhieß Jörg Haider Veränderung. Wonach suchten viele Wähler, was sie bei SPÖ und ÖVP nicht finden konnten?

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Mit jeder Äußerung in Mimik und Gestik verhieß Jörg Haider Veränderung. Wonach suchten viele Wähler, was sie bei SPÖ und ÖVP nicht finden konnten?

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Was ist geschehen? Ein Bewegtheits- und Bewegungspotential in unserer Gesellschaft hat Schübe ausgelöst. Die Gesellschaft hat die politischen Strukturen überrannt. Der Volkspartei wurde im letzten Augenblick der Rücken gestärkt, der Freiheitlichen Partei flossen starke Gewinne zu.

Auch im späten 20. Jahrhundert ist es sehr schwer, daß sich in der Politik die (notwendige) Vernunft des Arguments mit der (notwendigen) Emotion der Überzeugungsdynamik verbindet. So haben nicht wenige Wähler den kürzeren Weg emotionaler Zustimmung besonders zu einer Führungsfigur gewählt. Mit jeder Äußerung in Mimik und Geste verhieß sie ihnen Veränderungsfähigkeit. Und erstaunlicherweise wollen auch Gesättigte und Gesicherte dergleichen - die Ungesicherten umso mehr. Schon der Anschein von Nähe und Direktheit genügt in einer durch schnellen Schein gekennzeichneten Informationsflut.

Was ist nur Maske?

Die Emotionen sprechen darauf an, ohne prüfen zu wollen und zu können, was davon Maske ist. Die Individualisierung, von der man meinte, daß sie in der zunehmend risikoreichen Gesellschaft mit einem neuen Schub von Selbstvergewisserung sich würde verbinden müssen, findet sich offensichtlich viel leichter mit wesentlich weniger ab. Populistische Eskapaden, Polemik, Meinungswechsel, Kurzfristigkeit vieler Art scheinen für Belebung schon zu genügen. Auch Reklame und Konsumanreiz wechseln ja blitzschnell, wenn es um Marktanteile und die Eroberung von Segmenten neuer Zielgruppen geht.

Aber die Menschen wollen wohl etwas mehr: Mit fast allen Mitteln für sich Nähe und Identifizierungsmöglichkeiten gewinnen. Bei der Surrogatnähe von Bildschirm und Internet tastet das Unbewußte doch seine Unbehaustheit aus. So punkten die Politiker "zum Anfassen". Das hatten die spin-doctors, selber im Netz der Scheinfäden gefangen, sich so nicht gedacht.

Was empfiehlt der Blick voraus? Einmal, daß Politiker und Politik nicht nur "anfaßbar" werden, sondern die Lebensprobleme und Lebensvorstellungen der Menschen in der Nähe selber erfassen und die Menschen sehen, die sich in ihren Situationen bewegen: die Mütter, die sich in der Früh hetzen, um Kinder in den Kindergarten und in die Schule zu bringen, ehe sie rechtzeitig zur Arbeit gehen; die alten Frauen, die trotz ausgeheilter Schenkelhalsfraktur mangels an Hilfe zu Hause im Spital hängenbleiben; die tiefen Existenzsorgen junger, ausgebildeter Menschen auf Jobsuche. Und wer sieht sich wirklich aus der Nähe an, wie (schlecht) die Integration der Ausländer für diese selber und für die österreichischen "Gastgeber" in den Stadtvierteln funktioniert?

Die Politik braucht nicht nur Umfragedaten - obwohl sich damit einiges verdienen läßt -, sondern viel dringlicher wahrscheinlich "Fallstudien", welche die Aufrollung von verwickelten Einzelproblemen ermöglichen und zu Einfühlung und Zuhörvermögen zwingen.

Aber wie bei so vielen Verhältnissen im Leben ist nicht nur Nähe, sondern auch gezielte Distanz gefordert. So wird - Blick nach vorne - eine Ideen- und Grundlagendiskussion über alte Ideologien und neue Perspektiven und vielleicht auch "Visionen" nötig. Nur solcherlei kann die Vordergründigkeit der populistischen Wendehälse aufdecken und entzaubern. Diskutierte Ideen haben es in sich, daß sie neue hervortreiben.

Unsere österreichische intellektuelle Öffentlichkeit führt sehr stark politische Selbstgespräche, meist mit ohnehin schon abgeleierten Positionen, die Intellektuellen haben ihre eigenen Ghettos, auch wenn sie in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren den Marsch durch die Institutionen proklamierten. Oft stehen sie sich selber und einander im Weg, opinion leader zu sein oder zu werden. Aber der Geist - analytisch oder entwerfend - muß hinaus in die ohnehin durch Medien angerammelte Welt. Wer schafft die Begegnungsplätze, damit die Begeisterungsfähigkeit mit Reflexion und vernünftigem Abwägen sich verbinden?

Alexis de Tocqueville sah schon um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, daß der Gleichheitsgrundsatz die Berücksichtigung der menschlichen Person samt ihren Schwächen erfordert. Für ihn galt als frei (und dadurch entscheidungsfähig) nur der, dessen Bedürfnisse angesprochen wurden. Wer nicht in seinen Bedürfnissen erkannt wird, kann auch zur Gleichheit nicht genug Zugang finden.

Distanz und Nähe, Reflexion und Zuwendung sind schwer zu verbinden. Der Blick nach vorn verlangt diese Mischung.

Der Autor ist Professor für Soziologe und Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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