Blind für den Alltag der Kinder?

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Im Umgang mit "schwierigen" Kindern vollzieht sich gegenwärtig ein drastischer Wandel. Die Psycho-Pille kommt! Was in den USA tägliche Routine ist, wird auch bei uns nicht aufzuhalten sein: Täglich stellen sich dort eine Million AD/HD-Kinder (Abkürzung für "Attention Deficit Hyperactivity Disorder") in der Schule in Reih und Glied auf, um ihr Glas Wasser zur Einnahme eines kleinen gelben Dragees namens "Ritalin" zu empfangen, das den Wirkstoff Methylphenidat enthält.

Der Kongreß in Salzburg hat es deutlich gemacht: Auch bei uns setzt - zeitverzögert - eine role-back zu einfachen Antworten auf Lern- und Verhaltensprobleme von Kindern ein. Nachdem es den Sozialwissenschaften in jahrzehntelanger empirischer Forschung gelungen war, die Problematik psychischer Störungen bei Kindern aus der alleinigen Umklammerung der Medizin zu lösen, kommt es nunmehr zu einem erneuten Zurück zu rein medizinisch orientierten Erklärungsmodellen. Verstummt sind Kritiker wie Reinhard Voss, der mit "Keine Pillen für den Zappelpilipp!" eine vielbeachtete Absage an die Pathologisierung und medikamentöse Behandlung abweichenden kindlichen Verhaltens schrieb.

Kernpunkt des gegenwärtigen Trends ist: Kindliche Lern- und Verhaltensstörungen werden wiederum so gesehen und behandelt, als wären sie Krankheiten im Sinne rein organischer Defizite! Diagnose und Therapie orientieren sich wieder primär an endogenen, das heißt im Kind gelegenen Störungsursachen. In Nicht-Beachtung des Prinzips der Multikausalität der meisten kindlichen Lern- und Verhaltensprobleme wird wieder vermehrt allein an den Kindern angesetzt und diese vorschnell zu behandlungsbedürftigen "Fällen" erklärt. Der Rückgang finanzieller Mittel für schulische und außerschulische Fördermaßnahmen begünstigt medizinische Erklärungsmuster, weil sich damit die Hoffnung auf Finanzierungsmittel von Krankenkassen verknüpft. Standes- und berufspolitische Interessen verstärken die Tendenz zur Behandlung der Störung allein am Kind als dem Symptomträger.

Dem allem kommt ein ungeduldiger, vorrangig an der möglichst raschen Symptombeseitigung orientierter Zeitgeist entgegen. Gefordert ist schnelle Mach- und Reparierbarkeit kindlicher Probleme mittels einfacher Rezepte. Man ist immer weniger daran interessiert, wodurch ein Symptom überhaupt erst entstanden ist. Endogene Konzepte machen die Behandlung einfach und schnell: Die Pille für Hyperaktive, Legastheniker, Konzentrationsschwierige, Bettnässer ... sie alle werden "therapiert" - gerade so, als hätten sie eine Virusinfektion mit ein bißchen Fieber.

Was sich in Salzburg deutlich zeigte, das ist ein zunehmender kindertherapeutischer Reduktionismus. Er birgt die Gefahr der Blindheit für den modernen Kinderalltag und übersieht leicht, daß kindliches (Fehl-) Verhalten allzu oft nur deutlicher Ausdruck und Signal einer gestörten Grundbeziehung zwischen ihm, dem Kind und seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist. Selbst wenn der Anteil organisch-endogener Ursachen im Falle kindlicher Hyperaktivität bedeutsam ist, darf der häusliche und pädagogisch-didaktische Anteil nicht unterbewertet werden. Zahllose Untersuchungen und Einzelfallanalysen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß man mit einseitiger therapeutischer Vorgangsweise unter Ausklammerung systemisch-konstruktivistischer Konzepte der Komplexität kindlicher Verhaltensprobleme nicht gerecht wird.

Vor allem aber: Zappelphilipp, Pipi Langstrumpf, Huckleberry Finn & Co. - sie alle brauchen Eltern.

Eltern mit (viel) Zeit und ruhiger Gelassenheit. Eltern, die Psycho-Pille und Beruhigungssäftchen so lange wie möglich im Schrank lassen!

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