Brücken in die "Welt der Gadsche"

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Die meisten Roma-Kinder kämpfen mit Problemen in der Schule. Der Verein "Romano Centro" in Wien versucht durch eine spezielle Lernhilfe, die Leistungen der Kinder zu verbessern und den Familien die Notwendigkeit eines regelmäßigen Schulbesuches klarzumachen.

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Die meisten Roma-Kinder kämpfen mit Problemen in der Schule. Der Verein "Romano Centro" in Wien versucht durch eine spezielle Lernhilfe, die Leistungen der Kinder zu verbessern und den Familien die Notwendigkeit eines regelmäßigen Schulbesuches klarzumachen.

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Ein Altbau im 3. Wiener Gemeindebezirk. In der hintersten Ecke im Erdgeschoß eine unscheinbare Türe. Keine Klingel, kein Namensschild. Die Türe führt in ein winziges Vorzimmer, das in eine schmale Küche übergeht, links ein kleines Wohnzimmer.

Dort sitzen über ihre Hefte gebeugt Zoran und Dujan. Zoran müht sich um die Lösung eines Rechenbeispiels, Dujan kämpft mit einer Abschreibübung. Zoran ist dreizehn und geht in die 2. Klasse Mittelschule, sein kleinerer Bruder ist acht und besucht die 2. Klasse Volksschule. Sie sind Roma - und sie haben massive Probleme in der Schule.

Seit Beginn des Schuljahres lernt Katharina Paul, eine junge Studentin, regelmäßig mit den beiden Buben. Sie ist eine der derzeit achtzehn "Lernhelfer", die vom Verein "Romano Centro" an Roma-Familien vermittelt werden, deren Kinder Probleme in der Schule haben. Ein Mal in der Woche setzt sie sich mit Zoran und Dujan für zwei Stunden zusammen, macht mit ihnen die Hausaufgaben, übt für anstehende Tests und Schularbeiten und ist für die Familie darüberhinaus eine wichtige Kontaktperson zur "Welt der Gadsche", der Nicht-Roma.

Die meisten Roma-Kinder kämpfen mit Problemen in der Schule. Gründe dafür gibt es viele: meist werden die Kinder von den Großeltern erzogen, die selbst Analphabeten sind und die Schule überfüssig finden; auch die engen Wohnverhältnisse und die fehlende Ruhe beim Lernen wirken sich negativ aus. Weitere Gründe sind in der Mentalität der Roma zu finden: sie sind keine Individualisten, verfügen kaum über abstraktes Denken und haben eine blühende Fantasie. Diese Fantasie wird ihnen oft zum Verhängnis, gelten sie doch dann in den Augen der Lehrer und Klassenkameraden als Lügner. Durch schlechte Deutschkenntnisse werden sie zudem schnell in Sonderschulen abgeschoben.

Renata Erich, die Initiatorin der Lernhilfe des Romano Centro, zählt diese Gründe nüchtern auf und betont im gleichen Atemzug, daß die Roma-Kinder nicht weniger intelligent als andere Kinder sind. In der traurigen Geschichte der Roma sieht sie ein Erklärungsmodell: die Roma waren immer gezwungen, ein gegenwärtiges Leben zu leben und hatten keine Zeit und auch keine Möglichkeit, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Das Schicksal des einzelnen war immer eng mit dem der Sippe verwoben, was keinerlei Individualität ausreifen ließ. Darüberhinaus war es wichtig, so früh als möglich das Handwerk des Vaters zu lernen; wichtiger als sich theoretisches Wissen in der Schule anzueignen.

Begonnen hat die Lernhilfe vor fünf Jahren. Anlaß waren bettelnde Roma-Kinder im Zentrum von Wien. Der damalige Bürgermeister, Helmut Zilk, wollte sie langfristig besser in das österreichische Schulsystem integrieren. "Dabei waren das Roma-Kinder aus der Slowakei, die zum Betteln nach Österreich gekommen sind", sagt Renata Erich, "Aber es war der Anfang der Lernhilfe". Sie ist eines der großen Projekte des Romano Centro, einem Verein, der allen Roma in Österreich offensteht und vor allem Beratung im Fremdenrecht, Hilfe bei Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen und weitere Hilfe in bürokratischen Angelegenheiten anbietet. Darüberhinaus verfügt er über eine große Bibliothek, gibt vierteljährlich eine zweisprachige Zeitung heraus und organisiert Veranstaltungen. Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge sowie durch eine Förderung des Bundeskanzleramtes aufgrund des Volksgruppengesetzes.

Kein Nebenjob Die Auswahl der Lernhelfer unterliegt dem Romano Centro. "Sie müssen über ein gewisses Maß an Erfahrung im Umgang mit Kindern und über viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen verfügen. Sie dürfen nicht naiv sein, das ist kein kleiner Nebenjob", sagt Renata Erich. Derzeit betreuen 18 Lehrer, Psychologen, Studenten und Sozialarbeiter zirka 40 Kinder in der Bundeshauptstadt. Ein Großteil der Kinder sind Volksschüler, einige Haupt- und Sonderschüler. Ein- bis zweimal die Woche - je nach der Dichte der anstehenden Tests und Prüfungen - setzen sich die Helfer mit ihren Schülern zusammen, um zu üben und zu lernen. Darüberhinaus ist den Lernhelfern des Romano Centro auch der Kontakt zu den Lehrern ihrer Schüler wichtig. Sprechstunden und Elternsprechtage werden zu wichtigen Terminen, und auch der Versuch, den Eltern der Kinder die Wichtigkeit dieser Termine deutlich zu machen, ist ein großes Anliegen. Ein Mal pro Monat treffen sich die Lernhelfer in den Räumen des Romano Centro in der Urschenböckgasse im 11. Wiener Gemeindebezirk, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Dabei gehen die Sorgen der von ihnen betreuten Kinder und Familien oft weit über schlechte Noten hinaus: sie brauchen Hilfe bei rechtlichen Fragen, suchen eine geeignetere Wohnung, eine Arbeitsstelle oder spezielle ärztliche Hilfe.

Ziel der Lernhilfe des Romano Centro ist es, die Leistungen der Kinder zu verbessern und den Roma-Familien die Notwendigkeit eines regelmäßigen Schulbesuches klarzumachen. Eltern von Kindern, die der Schulpflicht nicht regelmäßig nachkommen, können nämlich bestraft werden. Mittlerweile ist die Lernhilfe des Romano Centro in den Schulen bereits so bekannt, daß der Verein durch einen Anruf eines Lehrers oder eines Direktors dazwischengeschalten wird, bevor die Jugendämter eingreifen.

Nenac Grbic, dem Vater von Zoran und Dujan, ist die Notwendigkeit einer guten Ausbildung bewußt: "Die Schule ist wichtig", sagt der schwer an Asthma leidende Frühpensionist, "denn als Hilfsarbeiter hast du es schwer. Nur mit einer Ausbildung kannst du Arbeit finden und besser verdienen". Er sagt es im Brustton der Überzeugung, doch erst neulich gab es Schwierigkeiten, weil er mit seiner Familie anläßlich einer ausgiebigen Tauffeier für zehn Tage zu den Verwandten seiner Frau nach Italien fuhr. "Der Weg ist weit, die Reise lang. Das Fest alleine dauerte drei Tage. Da haben die Kinder eben in der Schule gefehlt."

Nenac Grbic wurde in Serbien geboren. Als Nationalität gibt er "Roma" an. Er ist schon seit 1972 in Österreich, seine fünf Kinder sind hier zur Welt gekommen, haben die österreichische Staatsbürgerschaft. Immer wieder hatten die Kinder Probleme in der Schule. Zoran wurde fast schon in die Sonderschule abgeschoben, aber seit Katharina Paul regelmäßig mit ihm übt und lernt, haben sich seine Leistungen wesentlich verbessert.

"Bevor die Katharina gekommen ist, war's nicht so gut", gibt Zoran kleinlaut zu. "Er strengt sich wirklich an", sagt die 19-jährige Wienerin, die im Doppelstudium Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität und Politikwissenschaften und Spanisch an der Hauptuniversität studiert. Sie wollte darüberhinaus "etwas Nützliches machen, etwas Verantwortungsvolles".

Ohne Mißtrauen Sie fand den Zugang zu "ihrer" Roma-Familie einfach und hat kein Mißtrauen oder ähnliches gespürt. Über den Kontakt zur Familie hinaus schätzt sie die Kooperation mit den Lehrern und Direktoren der von ihr betreuten Kinder. "Bei Teilen des Lehrstoffes muß ich mich ein bißchen Nacherinnern. Aber das Wissen kommt zurück. Und dem kleinen Dujan Lesen beizubringen und zu merken, wie er langsam Wort für Wort entziffern kann, ist ein gutes Gefühl". Vor allem Zorans bessere Noten in der Schule sind ihr persönliches Erfolgserlebnis "und auch Zorans Lehrerin hat sich riesig gefreut".

Zoran tüftelt an einer Rechenhausaufgabe, in der er Brüche mit Klammer erweitern muß. Er rechnet schnell - aber schlampig. Katharina Paul hilft ihm - geduldig aber bestimmt. Währenddessen kämpft sein kleinerer Bruder Dujan noch immer mit seiner Abschreibübung. Ein mühsames Unterfangen. Ausnahmsweise lenkt der sonst immer aufgedrehte Fernsehapparat nicht ab, und auch der kleinste Bruder schläft heute Nachmittag etwas länger. Die älteren Geschwister kommen von der Arbeit heim, die Eltern setzen sich auf die Couch und unterhalten sich auf Romanes.

Große Träume Das kleine Wohnzimmer füllt sich, die Lernunterlagen sind dem Kaffeegeschirr und den Aschenbechern im Weg. Frau Grbic ist schwanger und wird - nur sie weiß, zum wievielten Mal - abtreiben. Zoran mag Lesen und Schreiben nicht so gern, seine Lieblingsfächer sind Turnen und Werken. Er träumt davon, Profifußballer zu werden. Zoran hingegen sieht sich in Zukunft als Computerprogrammierer.

Da die Lernhilfe in den Wohnungen der Kinder stattfindet, entstehen zwischen den Lernhelfern und den Roma-Familien oft enge Kontakte, manchmal sogar lang anhaltende Freundschaften. Eigentlich läuft die Lernhilfe aus, wenn die Kinder aus dem Pflichtschulalter hinaus sind. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, daß die Lernhelfer dann meist einen jüngeren Bruder oder eine kleinere Schwester - die vielleicht schon lange wißbegierig dabeigesessen und zugehört haben - übernehmen.

Anfangs bekamen die Lernhelfer kein Geld für ihren Einsatz. Jetzt können sie für eine Stunde 150 Schilling verrechnen. Wegzeiten, Gespräche mit den Lehrern und Elternsprechtage sind Ehrensache. Für die Roma-Familien ist die Lernhilfe des Romano Centro kostenlos. Finanziert wird sie zum einen Teil aus dem Integrationsfond, zum anderen aus einer Spende des Ökumenischen Rates der Kirche. Wie es nach dem Ende der bereitgestellten Mittel weitergehen wird, weiß niemand. "Wir schnorren dafür. Und wir sind ein Roma-Verein", sagt Renata Erich vom "Romano Centro" mit entwaffnendem Charme.

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