Bürger im 21. Jahrhundert

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"In der Demokratie kann man das Denken nicht delegieren und den Experten, Performern oder Demagogen überlassen." So lautet einer der zentralen Sätze, der am vergangenen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche fiel. Was dort Aleida und Jan Assmann, die diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, zu Gehör brachten, kann Satz für Satz unterschrieben werden. Und markiert - in Zeiten geistiger wie intellektueller Dürre eine Sternstunde der Zeitdiagnostik (www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/1244997/).

Wo Polarisation und Polemik, gepaart mit Halbwissen (z. B. rund um den Islam) und Fake News, den Diskurs dominieren, tut es gut, Stimmen wie jene dieser Kulturwissenschafter zu hören. Denn Diskurs hat auch mit Wissen und Weitsicht zu tun - beides kann man an beiden festmachen, deren Arbeiten über das kulturelle Gedächtnis gerade in gesellschaftspolitischer Perspektive so wichtig sind. So mahnen sie in ihrer Rede eine "unablässige kulturelle Arbeit" ein sowie "Dialog und Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenwart". Es ist wichtig, dass dies von Wissenschaftern so benannt wird, die sich eben nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen, sondern in der Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie ist, bestehen wollen.

Der Verrat an den "Bürgerlichen"

Und, ja, auch das ist festzuhalten: Es handelt sich um eine "bürgerliche" Auseinandersetzung, die hier geleistet wird. Denn das Bürgerliche geriet gerade in den letzten Jahren auch zum Kampfbegriff gegen eine vermeintlich "linke" Denkungsart, worunter mittlerweile alles subsumiert erscheint, was sich der dominierenden, weil so populären Weltsicht entgegenstellt, die sich ein neokonservatives Mäntelchen umhängt, aber viele "bürgerliche" Tugenden im Zweifelsfall über Bord wirft.

Doch der Blick in die Kultur(geschichte), auf die geistigen Wurzeln von dem, was sich zurzeit entwickelt, war bislang Kennzeichen gerade auch von so genannten "Konservativen". Dass sich einige davon heute im "linken" Spektrum wiederfinden, mag wie ein Treppenwitz der Geschichte anmuten.

Aber wer Bürger im 21. Jahrhundert sein will, tut gut daran, sich gerade mit den Zugängen aus den Theorien des kulturellen Gedächtnisses, wie sie Aleida und Jan Assmann vorlegen, auseinanderzusetzen. In ihrer Rede weisen die beiden darauf hin, dass das, "was uns verbindet -wie zum Beispiel Herkunft, Religion, Überzeugungen oder Projekte", zugleich auch das ist, "was uns trennt".

Längst geht es ans Eingemachte

Die "Schlüsselfrage" dabei lautet für sie: "Wie exklusiv ist dieses nationale Wir, das durch Identität und Identifikation entsteht?" Als eine Antwort auf diese Frage plädieren Aleida und Jan Assmann für "soziale und politische Solidarität". Auch das kann in der aktuellen Entsolidarisierungswelle nicht genug betont werden. Und natürlich ist mit Solidarität nicht der Blick aufs eigene Schrebergärtlein gemeint, das man sich, abgeschottet vom Rest der Welt, errichten oder bewahren möchte. Längst geht es aber auch hier ans Eingemachte. Für Aleida und Jan Assmann ist klar, dass auch in einer Demokratie nicht alles zur Disposition steht: "Es muss unstrittige Überzeugungen und einen Grundkonsens geben wie die Verfassung, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit des Rechts und die Menschenrechte." Wer hätte bis vor kurzem gedacht, dass dies alles - auch mitten in Europa - zur Disposition steht. Und dass es des energischen Einspruchs und des Handelns der Bürgerinnen und Bürger bedarf, um dem Einhalt zu gebieten. Die zitierte Rede ist exemplarisch hierfür.

Übrigens auch in Bezug auf die Wahrheitsfrage, die alle Beteiligten der gesellschaflichen Auseinandersetzungen für sich in Anspruch nehmen. Aleida und Jan Assmann zitieren dazu lakonisch den Philosophen Karl Jaspers: "Wahr ist, was uns verbindet!" Auch dem ist nichts hinzuzufügen.

otto.friedrich@furche.at |

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